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Politik

Der ewige Putin

1. Juli 2020

Die Risiken und Nebenwirkungen von Volksabstimmungen sind unberechenbar. Das könnte auch Wladimir Putin erfahren, der sich gerade eine Änderung der Verfassung vom Volk hat absegnen lassen, meint Christian F. Trippe.

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Russland - Putin wendet sich an Nation
Bild: picture-alliance/AP/A. Nikolsky

Als der damalige britische Premier David Cameron einen Volksentscheid über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches in der EU ankündigte, da hätte er dies nicht tun müssen. Cameron handelte ohne verfassungsrechtliche Not, aber unter politischem Druck. Er setzte eine einfache Ja-oder-Nein-Abstimmung über eine ganz und gar nicht einfache Frage an - und stürzte sein Land damit nachhaltig ins politische Chaos.

Als der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin eine Volksbefragung über eine tiefgreifende Verfassungsreform ankündigte, da hätte er dies nicht tun müssen. Putin handelte nicht aus verfassungsrechtlicher Not, sondern weil er politischen Druck verspürte. Er setzte eine einfache Frage - Ja oder Nein - über eine hochkomplexe Materie. Denn Verfassungsfragen sind immer und zuerst Machtfragen. Und sie berühren das, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Filmreife Inszenierung in der Duma

Die Machtfrage hatte sich Putin in einer filmreifen Inszenierung schon beantworten lassen, bevor er sein Volk anrief. Monatelang hatten Politikberater in Moskau gegrübelt und Polittechnologen geknobelt, wie denn Putin nach Ablauf seiner Amtszeit, gebunden durch konstitutionelle Vorgaben, an der Macht bleiben könne. Durch neue Staatsorgane? In einem neuen Unionsstaat? Oder mithilfe eines neuen Staatsamts? Drehbücher kursierten, über Szenarien wurde spekuliert. Dann hob die erste Frau im All und Heldin der Sowjetunion zum politischen Höhenflug ab - als Abgeordnete der Kreml-Partei "Einiges Russland" schlug Walentina Tereschkowa eine Verfassungsänderung vor, die Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglicht.

Christian Trippe Leiter Hauptabteilung Osteuropa
Christian F. Trippe leitet die Osteuropa-ProgrammeBild: DW

Wenn er denn will. Seit neuestem kokettiert Putin damit in der Öffentlichkeit und sagt, unter gewissen Umständen könne er sich schon vorstellen, erneut zu kandidieren. Nun sind die Umstände eingetreten. Mehr als drei Viertel der Russen haben ihren Präsidenten gebeten, im Amt zu bleiben. Exakt dieses Ergebnis war schon vor Wochen von Kreml-Astrologen vorausgesagt worden. Denn das ist ja das eigentliche Ziel der Verfassungsreform: Einen plebiszitären Ruf zu orchestrieren, der Putin an der Macht hält. Legitimität zu konstruieren, wo in Wirklichkeit eine moralische Leerstelle klafft.

Der Kreml hilft Populisten, links und rechts

"Stabilität und Sicherheit" hat Putin den Russen versprochen, wenn sie die Verfassungsänderung gutheißen. Kurzfristig wird er beides garantieren, daran zweifeln nicht einmal seine politischen Gegner. Aber um welchen Preis? Der lässt sich zumindest abschätzen, wenn die übrigen Verfassungsänderungen in den Blick genommen werden, die in der Summe nichts anders sind als eine weitere Abkehr vom Westen und seinem liberalen Ordnungsmodell. So hat der Vorrang russischen Rechts vor internationalen Normen künftig Verfassungsrang, ebenso der Glaube an Gott und die Absage an alle Lebensentwürfe, die nicht dem traditionellen Familienbild entsprechen.

Den Geist des neuen russischen Grundgesetzes dürften auch andere zu spüren bekommen. Denn mit dieser Abstimmung im Rücken wird sich der Kreml ermuntert sehen, sein Herrschaftsmodell weiter zu propagieren. Links- und Rechtspopulisten überall in Europa dürfen sich also schon jetzt auf eine noch intensivere Autokratieförderung aus Moskau freuen. Jenen Nationen aber, die vor 30 Jahren unabhängig wurden von der UdSSR, bereitet die Verfassungsreform neuen Kopfschmerz - gibt sie doch eine "historische Wahrheit" vor, die sich an alten, imperial-sowjetischen Geschichtsbildern  orientiert.

Nervosität in Moskau, Corona und die Wirtschaft  

Mit der neuen Verfassung macht Russland sich ehrlich, denn der neue Text bildet begrifflich ab, was die russische Politik der vergangenen 20 Jahre charakterisiert. Putin festigt seine Macht und stärkt jenes autoritäre System, das auf ihn zugeschnitten ist. Soweit, so beruhigend für all jene, die dieses System tragen und von ihm profitieren. Und trotzdem ist in Moskau auffallend viel Nervosität in diesen Tagen.

Denn der Kreml ließ nichts, aber auch gar nichts unversucht, um das gewünschte Ergebnis dieser Abstimmung zu erzielen. Was aber, wenn genau diese offensichtliche Beeinflussung, verbunden mit allerlei organisatorischen Ungereimtheiten, das Gegenteil des erwünschten Effekts erzielt? Wenn der Präsident eben nicht einen Schub neuer Stärke bekommt, sondern das Ergebnis der Volksbefragung nicht recht ernstgenommen wird? Wenn es gar politische Widerstände hervorruft? Putins Popularitätswerte sinken seit Monaten. Russlands Wirtschaft kämpft gegen die Rezession. Das Coronavirus verwüstet auch in Russland Bilanzen und befällt Auftragsbücher. 

Update der Verfassung, Reset der Amtszeiten

Als der britische Regierungschef David Cameron erkannte, dass er sich mit seiner Volksabstimmung verzockt hatte, trat er zurück. Er sprach seinen Amtsverzicht in die Kameras, gestand seine Niederlage ein, drehte sich um und ging fröhlich pfeifend von dannen.

Sollte die Volksbefragung in Russland aber ihr politisches Ziel verfehlen, wird Präsident Putin sicherlich nicht entspannt aufs politische Altenteil wechseln. Diese Option sieht das politische Betriebssystem für Russland nicht vor. Stattdessen kann Putin jetzt, mit dem Update der Verfassung noch weitere 16 Jahre regieren. Mein Tipp: Er wird es tun - allen politischen Folgekosten zum Trotz.

Christian Trippe Leiter Hauptabteilung Osteuropa
Christian F. Trippe Leiter der DW-Abteilung Osteuropa