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Politik

Der Kongress tanzt

Norbert Mappes-Niediek
Norbert Mappes-Niediek
7. Juli 2019

So produktiv waren die Parlamentarier in Wien schon lange nicht mehr. Doch Österreichs "freies Spiel der Kräfte" ist alles andere als ein Modell für Deutschland, meint Norbert Mappes-Niediek.

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Österreich | Bau.Stelle Parlament
Das historische Parlamentsgebäude in Wien wird seit zwei Jahren aufwändig saniertBild: picture-alliance/dpa/ picturedesk/H. Ringhofer

Endlich kommt das Rauchverbot, das eine Mehrheit der Bevölkerung schon lange fordert, das aber am Widerstand des kettenrauchenden Vizekanzlers Strache gescheitert war. Und Glyphosat wird verboten - das Pestizid, an dem die Bauernlobby bis zuletzt festhielt, ebenfalls gegen den Willen einer klaren Mehrheit. Was da alles auf einmal möglich ist! Es klingt befreiend, was das Parlament in Wien da vergangene Woche im "freien Spiel der Kräfte" beschlossen hat - frei von tatsächlichen oder vorgeblichen Koalitionszwängen. Als befreiend wurde die kurze Woche der Anarchie von vielen auch tatsächlich empfunden, so sehr, dass manche schon altliberale Morgenluft witterten und von "Sternstunden des Parlaments" sprachen.

Keinerlei Nachdenken über die Finanzierung

Aber die Freiheit der wechselnden Mehrheiten, möglich seit dem Sturz der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz Ende Mai, hat ihre Tücken. Um den laufenden Haushalt oder gar um die mittelfristige Finanzplanung brauchen sich die Parlamentarier nicht zu scheren - woher das Geld für ihre Beschlüsse kommen soll, ist nicht Gegenstand der Abstimmung. So warnte der Finanzminister der Übergangsregierung auch vor allzu großzügigen Beschlüssen: Nach ersten Überschlagsrechnungen hat das Parlament an zwei Sitzungstagen Mehrkosten in Höhe von 1,1 Milliarden Euro verursacht! Schon einmal, vor der jüngsten Wahl 2017, hatte das Parlament die wechselnden Mehrheiten dazu benutzt, erhebliche Kosten zu verursachen, ohne sich um die Gegenfinanzierung zu kümmern. Seither darf der Staat nicht mehr auf Einkommen und Vermögen Pflegebedürftiger zugreifen.

Norbert-Mappes-Niediek - t Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Zeitungen in Südosteuropa
Norbert Mappes-Niediek lebt seit Jahrzehnten als Korrespondent in ÖsterreichBild: L. Spuma

Wer bei der Konstellation die üblichen Reflexe mobilisiert, irrt sich allerdings. Hier die verantwortungsvollen (konservativen) Sparer, die sich nach den Regeln der schwäbischen Hausfrau richten, dort die (linken) Glücksritter, die eifrig mit fremdem Geld um sich werfen: Diese eingängige Gleichung stimmt nicht. Der größte Posten unter den Beschlüssen der vergangenen Woche, eine Erhöhung der Mindestrente, hat mit dem freien Spiel gar nichts zu tun: Beschlossen haben ihn die bisherigen Regierungspartner ÖVP und FPÖ. Für Wahlgeschenke hätten sie schon vor dem Sturz der Regierung eine Mehrheit gehabt.

Das Freiheitsgefühl, das Österreichs Parlamentarier jetzt zwei turbulente Wochen lang auskosten durften, speist sich vor allem aus der Frustration, die sie von der gestürzten Regierung erdulden mussten: Noch mehr als seine Vorgänger zeigte Kanzler Sebastian Kurz dem Hohen Hause seine Missachtung, erschien selten zu Sitzungen und spielte, wenn er doch einmal kam, demonstrativ mit dem Handy herum. Bei der strengen "Message control", die Kurz seinen Ministern auferlegte, war für Information des Parlaments oder gar für freie Debatten kein Platz. Aus den Regierungsfraktionen musste sich die Opposition nur vorgefertigte Textbausteine oder wüste Beschimpfungen anhören. Der Parlamentspräsident, ein Mann vom rechten ÖVP-Flügel um Kurz, agiert offen parteiisch. So reagierten die Abgeordneten nach dem Kurz-Sturz wie eine Schulklasse, der ein autoritärer Lehrer soeben den Rücken gezeigt hat: Es tobte!

Ein Modell für einen besseren Parlamentarismus lässt sich aus den kurzen Wochen der Freiheit nicht ableiten - weder für Österreich noch für den Rest der Welt, zum Beispiel für Deutschland, wo ebenfalls manche mit der Idee einer Minderheitsregierung liebäugeln. Österreichs Abgeordnete haben wenig bis nichts zu sagen. Weder den Kanzler noch den Bundespräsidenten dürfen sie wählen. Künftige Minister müssen sich dem Parlament nicht einmal vorstellen. Das "Amtsgeheimnis" erlaubt der Regierung, den Abgeordneten so gut wie jede substanzielle Auskunft zu verweigern, wenn ihr danach ist.

Keine Sternstunde des Parlamentarismus

Schlimmer noch ist der Umgang, den die Abgeordneten von ihren Partei- und Fraktionsführungen ertragen müssen. Nicht nur herrscht überall strenger Fraktionszwang, auch innerhalb der Fraktionen geht es zu wie in einem hierarchischen Apparat. Fast alle Ressourcen, personelle wie sachliche, sind bei den Fraktionsvorständen konzentriert. Nur wer sich mit den "Chefs" gut stellt, hat eine Chance, wiedergewählt zu werden: Direktmandate gibt es nicht, und wer auf die Liste kommt, entscheidet bei den großen Parteien offen oder verdeckt immer die Führung.

Auf seine Sternstunde wird der Parlamentarismus in Österreich wohl noch viele Jahre warten müssen. Nicht umsonst sind die Abgeordneten im Volke wenig bekannt und schon gar nicht populär. Berichtet wird in der klatschsüchtigen Medienlandschaft, wenn überhaupt, vorwiegend über glamouröse Quereinsteiger oder über Philippa Strache, die Ehefrau des kompromittierten Ex-Vizekanzlers mit seinem Ibiza-Video. Wird, wie in regelmäßigen Abständen üblich, über eine Staatsreform diskutiert, ist die Abschaffung oder wenigstens die Entmachtung eines Parlaments, wahlweise des Bundesrates oder der Landtage, immer die erste Forderung. Demokratische Reformen sind so ziemlich das letzte, was im zunehmend autoritären Klima des Landes auf der Tagesordnung stünde.