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Politik

Tschetschenisches Schmierentheater

Soric Miodrag Kommentarbild App
Miodrag Soric
19. November 2018

"Schauprozess" ist die einzige Vokabel, die für das Verfahren gegen den Chef der Menschenrechtsorganisation "Memorial" in Tschetschenien angemessen ist, meint Miodrag Soric.

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Aktivist Ojub Titijew
Seit Januar in Grosny hinter Gittern: Ojub TitijewBild: DW/M. Soric

Wollen die tschetschenischen Behörden wirklich nur den Beweisen glauben, die sie selbst gefälscht haben? Im vergangenen Januar schoben sie Ojub Titijew 200 Gramm Marihuana unter - während sie ihn festnahmen. Ihr Ziel: Den Büroleiter der Menschenrechtsorganisation "Memorial" in Grosny zum Schweigen zu bringen. Zumindest sitzt der 61-Jährige seitdem in Untersuchungshaft. Jetzt wird der Schauprozess gegen ihn fortgesetzt. Doch gleichzeitig blickt die Weltöffentlichkeit mehr denn je auf das, was in Tschetschenien passiert.

Ein Mann, der die Rechtsbrüche dokumentiert

Seit Jahren prangert Titijew an, wie die örtliche Polizei - meist nachts - Menschen festnimmt und sie "spurlos" verschwinden, sprich: sie ermordet werden. Er klagt an, dass in Tschetschenien gefoltert wird, Korruption weit verbreitet ist. Memorial dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, hilft Opfern. Sie ist die letzte unabhängige Nichtregierungsorganisation, die in Tschetschenien arbeitet. Alle anderen hat Republikchef Ramsan Kadyrow vertrieben. Moskau fragt er nicht. Selbst der russische Geheimdienst FSB - in Tschetschenien scheint er machtlos. Das ist Kadyrows "Reich". Hier herrschen er und seine Schergen.

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Miodrag Soric ist DW-Korrespondent in Russland

Doch Ojub Titijew ließ sich bisher nicht einschüchtern. Einer der wenigen. Deshalb sitzt er jetzt im Gefängnis. Indessen: Wer einem anständigen Menschen Drogen unterschiebt, sagt vor allem etwas über sich selbst aus: dass er das Recht missachtet, ungläubig ist, ehrlos. Ehre spielt in der tschetschenischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Und so war es Ehrensache, dass bei der "Zeugenanhörung" viele bekannten, welch ein großartiger Mensch Ojub sei: dass er fünf Mal täglich bete und die Fastenzeit einhalte, wie es sich für einen Muslim gehört; dass er hilfsbereit sei, bescheiden, nicht raucht oder gar trinkt. Es traten viele auf, die ihn seit seiner Kindheit kennen, in seiner Nachbarschaft leben, ihn täglich zum Sportclub gehen sehen. Als ein Greis die Richterin fragt, wie die Behörden nur auf einen solch abstrusen Gedanken kommen konnten, dass Ojub Titijew Drogen nehme, mussten im Gerichtssaal sogar die Sicherheitsleute lachen. Die Staatsanwältin wirkt hilflos. Was für ein Schmierentheater - ginge es nicht um das Schicksal eines aufrichtigen Mannes.

Der Kreml sollte seinen Einfluss nutzen

Titijew mit dem diesjährigen "Vaclav-Havel-Preis" auszuzeichnen war eine kluge Entscheidung des Europarates. Es ist auch gut und richtig, dass westliche Politiker, Diplomaten und Journalisten den Prozess begleiten. Das ist der einzige Schutz, den der Menschenrechtler hat. Der Kreml sollte den geringen Einfluss, den er in Tschetschenien noch hat, nutzen, um ihn freizulassen. Nein, nicht um westlichen Druck nachzugeben, sondern aus Eigeninteresse. Denn nach zwei Kriegen mit über 160.000 Toten ist die tschetschenische Gesellschaft verroht, traumatisiert. Die Wirtschaft liegt am Boden. Es wird nur noch gehandelt, kaum produziert. Grosny hängt am Tropf des russischen Steuerzahlers. Wer in Tschetschenien einen Job haben will, braucht Beziehungen, die Nähe zur Macht. Dass es so etwas wie Recht und Gesetz gibt und nicht nur das Recht des Stärkeren zählt, haben viele vergessen - oder nie erlebt. Dass es nach Krieg, Leid und Elend in diesem kleinen Land solch selbstlose Menschen wie Titijew gibt: Die Tschetschenen können und sollten darauf stolz sein. Ihn ins Gefängnis zu werfen ist eine Schande.