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Der tote Flüchtling - Anatomie eines Gerüchts

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
28. Januar 2016

Für einige Stunden sorgte eine Meldung für Aufruhr. In Berlin sei ein Flüchtling beim Warten vor dem Amt gestorben. Die Nachricht erwies sich als falsch. Aber sie enthüllt die Abgründe einer Debatte, meint Kersten Knipp.

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Grabkerzen am Berliner LAndesamt für Gesundheit und Soziales" (Lageso), 27.01.2016 (Foto:dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/J.Carstensen

Ein paar in der Kälte flackernde Kerzen, entzündet als letzter Gruß. Stimmungsvoll leuchten sie in die Dämmerung, im stillen Gedenken an einen Toten, den es nicht gibt. Die Trauernden, stellte sich heraus, waren einer Falschmeldung aufgesessen: Anders als zunächst behauptet, war vor den Toren des Berliner "Landesamtes für Gesundheit und Soziales" (Lageso) doch kein Syrer nach tagelangem Warten gestorben.

Gerade in ihrer ins Leere gelaufenen Melancholie zeigen die Windlichter, dass die Diskussion um die Flüchtlinge ihre Unschuld längst verloren hat. Rasend schnell verbreitete sich die vom Bündnis "Moabit hilft" gepostete Nachricht über die sozialen Netzwerke. Und auch angesichts der sofort auf die Nachricht anspringenden Medienmaschinerie wird man den Eindruck nicht los, als hätten manche auf dieses Ereignis geradezu gewartet. Gelten doch die beim Berliner Landesamt herrschenden Zustände bundesweit als einzigartig und als skandalös.

Polarisiertes Deutschland

Deutschland hat sich über die Flüchtlingskrise polarisiert. Auf der einen Seite die, die die Politik der offenen Grenzen weiterhin begrüßen. Und auf der anderen jene, die sie für fatal halten, mit unabsehbaren Folgen für das Land. Selten, vielleicht noch nie wurde eine politische Diskussion mit solcher Härte und Unversöhnlichkeit geführt wie diese. Anhänger beider Seiten tauschen längst nicht mehr nur Argumente aus, sondern beleidigen und beschimpfen einander. Befürworter der Flüchtlingspolitik werfen deren Kritikern kalte Hartherzigkeit vor; diese wiederum antworten darauf mit dem Vorwurf einer geradezu historischen Naivität. Der Riss geht längst über die politische Sphäre hinaus. Teils zieht er sich ins Private, spaltet Kollegenkreise, Freunde, Verwandte. Menschen haben sich über die Krise entzweit, sprechen nicht oder kaum mehr miteinander. Die Flüchtlingskrise trifft Deutschland ins Mark.

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DW-Redakteur Kersten Knipp

Auf medialer Ebene waren die Kritiker der Flüchtlingspolitik seit der Silvesternacht klar im Vorteil. Die Bilder Frauen attackierender und sie ausraubender Nordafrikaner und Araber bescherten ihnen einen Triumph, wie er nicht größer hätte sein können. Seht her, so die Botschaft: Das passiert, wenn man Fremde unkontrolliert ins Land lässt. In vielen ihrer Spielformen war diese Botschaft nicht ohne rassistische Untertöne.

Auf entsprechende Gegenbilder konnten die Befürworter der Flüchtlingspolitik nicht verweisen. Ihnen fehlten seit längerem ans Herz gehende Bilder. Fotos von Familien mit kleinen Kindern überzeugten angesichts der tatsächlichen Zusammensetzung der Flüchtlinge - überwiegend junge Männer ohne weibliche Begleitung - seit geraumer Zeit nur noch die wenigsten.

Zynismen einer Debatte

Die meisten Deutschen sind nicht naiv. Darum darf man es sagen: Ein toter Flüchtling vor einer deutschen Amtsstube wäre natürlich eine Tragödie gewesen. Aber zugleich hätte er den Befürwortern der derzeitigen Aufnahmepraxis natürlich neuen symbolischen Auftrieb gegeben. Seht her, so die allzu früh in die Netzwerke gesetzte Botschaft: Deutschland kümmert sich nicht, jedenfalls nicht genug. Es braucht einen Toten, um endlich die notwendigen administrativen Entscheidungen zugunsten von Menschen zu treffen. Und auch das ist wahr: Ein Toter hätte alle Kritiker der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik beschämt aussehen lassen. Der Vorwurf kalter Gleichgültigkeit hätte an Plausibilität gewonnen.

Doch es gab keinen Toten. Der angebliche Tote ist eine imaginäre Figur, die den Deutschen viel über sich selbst, vor allem ihre Neigung zu Hysterie, erzählt. Eine Hysterie, die ihre Unschuld längst verloren hat. Eine Hysterie, die vielleicht weniger mit den Flüchtlingen als mit den Deutschen selbst zu tun hat: "Wer wollen wir sein, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben?" Das ist im Kern die Frage, die die Deutschen so aufbringt. Die Flüchtlinge, muss man fürchten, sind in diesem Streit oft genug nur Statisten im Hintergrund.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika