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Politik

Die Krise als Chance

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Alexander Kudascheff
25. März 2017

60 Jahre Römische Verträge. Ein runder Geburtstag, bei dem vielen der Festgäste so gar nicht nach Feiern zumute ist. Dabei ist die EU eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, meint Alexander Kudascheff.

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Europaflagge
Bild: DW/B. Riegert

Die EU, die Europäische Union ist in der Krise. Ist es die größte seit ihrer Gründung vor nunmehr 60 Jahren? So sieht es für viele aus - auch wenn die 1980er-Jahre bereits ein Krisenjahrzehnt waren. Damals sprach man von der europäischen Sklerose, die durch den damaligen Kommissionspräsidenten Jaques Delors überwunden wurde: Er begann den Binnenmarkt zu schaffen. Und vernünftigerweise - oder besser: listigerweise - nicht mit einer großen Ankündigung, gar einem behaupteten "historischen Schritt" oder einer öffentlich zelebrierten rhetorischen Vision. Nein, als Projekt der 300 Schritte, die zum Schluss ganz automatisch den Binnenmarkt ergaben. Aber unbestritten war das in der damals deutlich kleineren EG eine politische Möglichkeit, die von Brüssel erfunden worden war und umgesetzt werden konnte. Vergleichbares ist heute undenkbar.

Ein idealistischer Aufbruch nach dem Krieg

EWG, EG, EU - diese drei Abkürzungen stehen für die Entwicklung der Europäischen Union: von einer Wirtschaftsgemeinschaft über eine Europäische Gemeinschaft zur Union. Sie stehen für einen idealistischen Aufbruch nach dem zerstörerischen Zweiten Weltkrieg mit gerade einmal sechs Mitgliedern; über eine langsam sich erweiternde Gemeinschaft, die Großbritannien, Irland, später die jungen Demokratien wie Spanien, Portugal und Griechenland aufnahm; bis hin zur um die osteuropäischen Staaten gewachsenen Gemeinschaft der jetzt 28. Allerdings demnächst ohne Großbritannien, denn die Briten scheiden wieder aus.

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DW-Chefredakteur Alexander Kudascheff

Der "Brexit" - nichts symbolisiert so sehr die gegenwärtige Krise. Ein Land verlässt die Union, weil das Volk es so will. Das hat sich niemand vorstellen können. Und seitdem - und das zeigt die Tiefe der Krise - nagt der Selbstzweifel an den Europäern.

Er wird verstärkt durch den grassierenden Rechtspopulismus, der die EU-Befürworter in die Enge treibt. Frankreich, die Niederlande, Italien, Deutschland, in diversen mittel- und osteuropäischen Ländern: Überall tönen die Rechten und Ultrarechten, die EU müsse weg, das Bürokratiemonster Brüssel gehöre abgeschafft, der Euro rückabgewickelt. Und sie finden Gehör. Keine Mehrheiten, Gott sei Dank. Aber Anhänger, die lieber zurück wollen in die Pseudo-Idylle des Nationalstaats.

Dabei ist die EU - trotz ihrer Größe, die viele an ein "overstretched Empire" erinnert - eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie hat Frieden in Europa garantiert. Und man muss nur in die Ostukraine fahren und mit den Menschen dort reden, um zu wissen, was Frieden bedeutet. Der Binnenmarkt und der Freihandel haben einen unglaublichen Wohlstand ermöglicht. Die Solidarität der reicheren Länder hat den ärmeren  geholfen aufzuholen, den Rückstand deutlich zu verkürzen. Die Menschen können reisen, die Jugend kann überall studieren, man kann arbeiten und sich niederlassen, wo man will. Was für eine Utopie wäre das vor 60 Jahren, kurz nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg gewesen. Niemand hätte sie geglaubt.

Notwendiges Nachdenken über die Zukunft

Es stimmt: Die EU regelt heute zu viel. Sie ist nicht bürgernah genug. Sie kann ihren Zwecke und ihren Sinn nicht immer deutlich machen. Brüssel ist ein Raumschiff. Der Euro funktioniert nicht so, wie seine Väter (zu idealistisch) gehofft haben. Die Sicherung der Außengrenzen wird nicht als Gemeinschaftsaufgabe wahrgenommen. Es gibt ein ökonomisches Nord-Süd-und West-Ostgefälle - auch weil man das eine oder andere Land viel zu früh aufgenommen hat. Und die Vertiefung und Weiterentwicklung der institutionellen EU überfordert nationale Regierungen oft. Und führt deswegen zu störrischem Nein und häufiger Blockade.

Darüber müssen die Europäer nachdenken. Aber sie müssen auch ganz einfach feststellen, wie gut es ihnen auf dem alten Kontinent geht. Im Übrigen formieren sich zurzeit junge Menschen zu Tausenden quer durch Europa, um den "Puls Europas" hörbar zu machen und zu verstärken - und eine Gegenstimme zu den Rechten (und manchmal auch zu den globalisierungskritischen Linken) zu sein. In Frankreich hat mit Emmanuel Macron ein überzeugter Europäer die Chance, Staatspräsident zu werden. Und in Deutschland stehen sich mit Angela Merkel und Martin Schulz Kanzlerkandidaten gegenüber, die gegensätzlicher nicht sein könnten - aber beide unbedingte Pro-Europäer sind. Damit gibt es die realistische Hoffnung, dass die deutsch-französische Achse wieder zum Motor eines sich erneuernden Europas wird. Die Krise ist auch eine Chance.

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