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Politik

Per Referendum zur Wahrheit

27. März 2017

Das von Erdogan ins Spiel gebrachte Referendum über die EU-Beitrittsverhandlungen wäre wohl das Ende der türkischen EU-Perspektive. Aber zugleich eine ehrliche Anerkenntnis der politischen Realität, meint Zoran Arbutina.

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Türkei Antalya Erdogan Türkisch-Britisches Forum
Wie die Briten mit einem Referendum ausscheiden? Symbolträchtiger Erdogan-Vorschlag beim türkisch-britischen ForumBild: picture-alliance/abaca/Y. Bulbul

Man kennt das Phänomen: eine lang unterdrückte Überzeugung endlich zu äußern, die Tatsachen zu benennen, die Wahrheit auszusprechen - das entlastet, befreit, kann neue Energie entstehen lassen. Das gilt für Individuen genauso wie für Gesellschaften, im Privaten genauso wie im Politischen.

Nun hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer seiner zahlreichen Wahlkampftiraden gegen die Europäische Union angekündigt, er erwäge, auch ein Referendum über den EU-Beitritt abzuhalten. Natürlich erst nach dem Verfassungsreferendum am 26. April, mit dem er seine Machtbefugnisse erheblich erweitern will. Die unterschwellig formulierte Drohung ist mehr als offensichtlich: Das türkische Volk könnte ja fordern, die Beitrittsverhandlungen mit der EU einzustellen.

Unendliche Geschichte seit mehr als 50 Jahren

Damit wäre die türkische EU-Perspektive definitiv beendet, vorbei die Möglichkeit, ein Land mit 78 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von immerhin 735 Milliarden US-Dollar und einer immensen geostrategischen Bedeutung in die EU einzubinden. Das türkisch-europäische Projekt währt nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert: Schon 1959 fragte die Türkei erstmals um einen Beitritt an, bereits 1963 bekam das Land im sogenannten Ankara-Abkommen die EWG-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Und seit nunmehr zwölf Jahren wird der Beitritt formal verhandelt -  mal mehr, mal weniger engagiert.

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DW-Redakteur Zoran Arbutina

Aber diese Beitrittsgespräche waren nicht für die türkische und schon gar nicht für die europäische Seite jemals eine Herzensangelegenheit. Ankara verhandelte von Anfang an verhalten - die Reformen fürchtend, die ein EU-Beitrittsprozess unausweichlich mit sich bringt. Unter den Europäern wiederum überwog große Zurückhaltung, bis hin zur offenen Ablehnung dem Land gegenüber, das in vielerlei Hinsicht demokratische Defizite hat, in dem Rechtstaatlichkeit ein sehr dehnbarer Begriff ist und das dazu stark vom Islam geprägt ist. Beide Seiten haben sich über Jahre eher gegenseitig misstrauisch beäugt als wirklich verhandelt, betrachten sich eher als Kontrahenten, denn als Partner.

In den Bevölkerungen, besonders in der EU, gab es für einen Beitritt der Türkei ohnehin nie eine Mehrheit. Die meisten Menschen nehmen vor allem die großen religiösen und kulturellen Unterschiede wahr und sind der Meinung, dass die Türkei einfach nicht zu Europa gehört. Seit den harten Reaktionen auf den gescheiterten Putsch vom vergangenen Sommer ist das frühere Bauchgefühl zur vermeintlichen Gewissheit geworden zwischen Stockholm und Athen.

Diese Abneigung ist aber nicht einseitig: Auch in der Türkei ist eine EU-Perspektive inzwischen nicht mehr mehrheitsfähig. Das war vor zwölf Jahren noch anders, eine klare Mehrheit der Bevölkerung sah Europa damals als Verheißung. Doch spätestens seit den Gezi-Park-Protesten vor vier Jahren fährt Präsident Erdogan einen klaren anti-europäischen Kurs, bei dem ihm seine treue Anhängerschaft folgt.

Kein Wehklagen in der EU über Erdogans Ankündigung

Vor diesem Hintergrund wundert nicht weiter, dass es nach Erdogans Ankündigung vom Samstag in der EU kein großes Wehklagen ausgelöst hat. Denn hinter dieser Ankündigung, die als Drohung verpackt war, verbirgt sich die Erkenntnis, die sowohl in der Türkei als auch in der EU viele teilen: das Projekt der türkischen EU-Mitgliedschaft war von Anfang an eine politische Kopfgeburt. Der notwendige Rückhalt bei den Bürgern fehlt dafür – sowohl in EU als auch in der Türkei.

Daher ist es nur konsequent und ehrlich, wenn das endlich auch so formuliert und ausgesprochen wird. Der Wahrheit ins Auge zu blicken tut gut und erleichtert. Und dieser Schritt kann neue Energien freisetzen, jedem der Beteiligten neuen Schwung geben: Der Türkei, um ihre Rolle in der Region und ihr Verhältnis zur EU zu überdenken und neu zu definieren. Aber auch der EU: Einerseits um ihr Verhältnis zu einem wichtigen geostrategischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Player zu klären. Andererseits aber auch, um ihre Erweiterungsbemühungen dahin zu richten, wo sie gesellschaftlich und politisch notwendig sind. Und wo die Strahlkraft eines EU-Beitritts immer noch tiefgreifende Reformprozesse anstoßen und beflügeln kann: auf die wieder einmal brodelnde Region Westbalkan.

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