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Die Türkei unter der Scharia - ein Scheinproblem

Daniel Heinrich Kommentarbild App PROVISORISCH
Daniel Heinrich
26. April 2016

Der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman fordert eine "islamische" Verfassung für sein Land und das säkulare Europa zuckt zusammen. Das wahre Problem liegt jedoch an ganz anderer Stelle, meint Daniel Heinrich.

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Türkei: Politikerinnen wollen im Parlament ein Kopftuch tragen
Bild: picture-alliance/dpa

Es ist so einfach, das Narrativ von der konservativen AKP, welche die Türkei in einen islamischen Gottesstaat verwandeln will. Dunkel spukt dem westlichen Bildungsbürger ein finster dreinblickender, humorloser Präsident Erdogan im Hinterkopf, der sultansgleich die Scharia wieder aufleben lassen will. Und das nur drei Flugstunden von Köln entfernt. Die Türken vor Wien waren gar nichts dagegen.

Eines wird dabei aber gern außer Acht gelassen: Genau das wird es nie geben. Denn würde die AKP tatsächlich am kemalistischen Gründungsmythos, dem säkularen Staat rütteln - die Masse der Türken stünde auf den Barrikaden! Wenn es um Kemal Atatürk, den Übervater der Republik geht, hört der Spaß auf. Das gilt auch für AKP-Anhänger.

Ein Denkmal zum 100. Geburtstag der Republik

Richtig ist: Die AKP arbeitet an einem Verfassungsentwurf für ein Präsidialsystem muslimischer Prägung. Recep Tayyip Erdogan möchte sich zum 100. Geburtstag der Republik im Jahr 2023 ein Denkmal setzen. Den Kemalisten im Land geht das Machtgebaren des Potentaten in Ankara naturgegeben gegen den Strich. Und mit Vorschlägen zur Aufnahme von religiösen Grundsätzen in die Verfassung wird die AKP auch noch die letzten liberalen Unterstützer verprellen.

Einen Vorgeschmack darauf, was passieren kann, wenn sich die Konservativen zu weit aus dem Fenster lehnen, haben die Gezi-Park-Proteste 2013 geliefert: Hunderttausende vor allem junger Türken strömten landesweit auf die Straßen und solidarisierten sich partei- und schichtübergreifend gegen allzu große Machtansprüche von Erdogan & Co.

Porträt Daniel Heinrich
DW-Redakteur Daniel HeinrichBild: DW/M. Müler

So schnell, so viele und so sauer. Diese Protestwelle dürfte man auch bei der AKP noch nicht vergessen haben. Und sie hat im Zusammenspiel mit den vergangenen Wahlen vor allem eines bewiesen: Die AKP wird die für eine Verfassungsänderung benötigte Zwei-Drittel-Mehrheit nie zusammenbekommen. Da können sich die Kahramans und Erdogans noch so sehr auf die Hinterbeine stellen.

Religionsfreiheit in der Türkei?

Apropos "islamischer Staat" Türkei - noch ein Hinweis an alle türkischen Oppositionspolitiker, die sich im Anti-Erdogan Lager auf der Seite wahrer Demokraten sehen: Wirklicher Laizismus hat in der Türkei noch nie existiert. Vielmehr wollte der Staat der Interpretation der Religion schon immer seinen Stempel aufdrücken, und so schuf man nach Gründung der Republik das "Amt für religiöse Angelegenheiten". Mit einem Jahresbudget von über einer Milliarde Euro ist das Ministerium mit seinem Etat die Nr. 2 gleich hinter dem Verteidigungsministerium. Imame sind Angestellte des Staates und nur die sunnitische Ausprägung des Islam wird konsequent gefördert.

Die meisten Leidtragenden im Land sind selbst Muslime: 20 Millionen Aleviten gibt es in der Türkei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat gerade bestätigt, dass diese bei der Ausübung ihrer Religion massiv behindert werden.

Das wahre Problem mit Religionsfreiheit in der Türkei ist also nicht, ob "Allah" künftig in der Verfassung steht oder nicht. Das wird sowieso nicht passieren. Das wahre Problem liegt darin, dass es wirkliche Religionsfreiheit noch nie gegeben hat.

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