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"Ein Scheinparlament"

Matthias von Hein14. März 2012

Die jährliche Parlamentssitzung in Peking war die übliche Akklamationsveranstaltung. Auch die Machtkämpfe vor dem Parteikongress im Herbst wurden übertüncht. Matthias von Hein kommentiert.

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Kommentar Deutsch

In China ist vieles größer. Das gilt auch für das Parlament. Mit seinen knapp 3000 Delegierten ist es das größte der Welt. In China ist vieles anders. Auch das gilt für das Parlament: Obwohl es laut Verfassung das höchste Staatsorgan ist, hat es nichts zu sagen. In seiner ganzen Geschichte wurde kein einziger Gesetzentwurf zu Fall gebracht. Noch nie wurde ein Rechenschaftsbericht zurückgewiesen. Statt kontroverser Debatten herrscht im Plenum gähnende Langeweile. Kurzum: Der Nationale Volkskongress ist ein Scheinparlament.

Vielleicht ist es nur Zufall: In diesem Jahr begann die Sitzungsperiode des Volkskongresses ausgerechnet am sogenannten "Lei Feng-Tag". Lei Feng ist eine gefälschte Ikone der kommunistischen Propaganda. Wegen seiner angeblichen Selbstlosigkeit und Bescheidenheit wurde der junge Soldat 1960 zum nationalen Vorbild erklärt. Aber jeder weiß: Der Lei Feng der Propaganda hat so nie gelebt, sein angebliches Tagebuch ist ein Kunstprodukt. Das hat aber niemanden daran gehindert, in diesem Jahr eine beispiellose Kampagne vom Zaune zu brechen, in der das "Lernen von Lei Feng" propagiert wird.

"Lernen von Lei Feng"

Genau wie Lei Feng ist auch die angebliche Volksvertretung in der Halle des Volkes eine Fälschung: Sie ist nicht gewählt, sondern handverlesen. Hunderte Millionen Menschen leben auf dem Lande, aber von den 3000 Abgeordneten sind nur ein gutes Dutzend Bauern. Dafür aber besitzen die 70 reichsten Abgeordneten ein Vermögen von über 80 Milliarden US-Dollar. Da kann man mit Fug und Recht von "Sozialismus mit chinesischen Merkmalen" sprechen.

Eine Lawine von Statistiken geht während des Volkskongresses auf die Abgeordneten, die Presse und die Bevölkerung nieder. Aber Transparenz sieht trotzdem anders aus. Ein Beispiel lieferte der Präsident des Obersten Volksgerichtshofes mit seinem Rechenschaftsbericht. Auch der enthält eine Fülle von Statistiken: Da erfährt man zum Beispiel die durchaus interessante Neuigkeit, dass im letzten Jahr 66.000 Fälle von Urheberrechtsverletzungen verhandelt wurden, eine Steigerung um fast 40 Prozent gegenüber 2010. Oder dass knapp 70.000 Fälle von Schwerverbrechen verhandelt wurden, inklusive der Verurteilung von 105.000 Angeklagten.

Wie viele Todesurteile aber verhängt und vollstreckt wurden, bleibt ein wohl gehütetes Staatsgeheimnis. Man weiß nur: Es sind mehr als im Rest der Welt zusammen; man schätzt rund 4000. Gut, dass jetzt wenigstens - ebenfalls zufällig während der Volkskongresssitzung - die unerträgliche Sendung eines Provinzkanals eingestellt wurde, in der Todeskandidaten vor ihrer Hinrichtung in zynischen Interviews noch zusätzlich gedemütigt wurden.

Zentrale Programmredaktion, Reporter-/Autorenpool Matthias Von Hein _DWW5452. Foto DW/Per Henriksen Best Practice Day 11.03.2010.
Matthias von HeinBild: DW

Warnung vor "Chaos der Kulturrevolution"

Zu den interessanteren Zahlen des Volkskongresses gehört auch, dass die von Ministerpräsident Wen Jiabao und Präsident Hu Jintao propagierte "harmonische Gesellschaft" mehr Geld für die innere Sicherheit aufwendet als für das Militär.

Zur Überraschung geriet die Abschlusspressekonferenz Wen Jiabaos. Da warnte Chinas Premier vor einer Wiederholung des Chaos der Kulturrevolution, sollten dringende politische Reformen ausbleiben. Welche Reformen das sein sollten, ließ Wen freilich offen.

Für Premier und Präsident beginnt das letzte Jahr ihrer Amtszeit. Im Hintergrund tobt ein heftiger Kampf um die Macht im ständigen Ausschuss des Politbüros. Sieben der neun Sitze in diesem innersten Machtzirkel werden im Herbst neu besetzt. Abgesehen von Wen Jiabaos dramatischer Warnung bemühte sich die Kongressregie wie stets um ein makelloses Bild der Einheit. Das schloss auch die Abgeordneten der nationalen Minderheiten mit ein: Die durften in ihren bunten Trachten auftreten und exotisches Flair in die Halle des Volkes tragen. Für echte Minderheitenrechte eintreten durften sie nicht. Die Welle der Selbstverbrennungen durch Tibeter wurde nur insofern thematisiert, als ein Funktionär aus Sichuan Selbstverbrennungen als Verbrechen brandmarkte.

Die Bevölkerung weiß, was sie von solchen Inszenierungen zu halten hat - und wendet sich desinteressiert ab. Sie weiß: Entscheidungen werden in China woanders getroffen. Und: Sie wird nicht gefragt.