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Politik

Ende der Schonfrist für Selenskyj

Roman Goncharenko (DW)
Roman Goncharenko
15. September 2019

Der Westen hielt sich mit Kritik an Wolodymyr Selenskyj bisher zurück. Doch einige Reformen des ukrainischen Präsidenten wirken antidemokratisch und brauchen eine klare Botschaft, meint Roman Goncharenko.

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Ukraine Kiew | Volodymyr Zelenskiy hält Rede während der "Yalta European Strategy " Treffen (YES)
Bild: Reuters/Ukrainian Presidential Press Service

"Reformen im Eiltempo durchführen, keine Verzögerung mehr." Mit diesem Anspruch trat Wolodymyr Selenskyj als Präsident der Ukraine an. Bisher war ihm damit der Applaus zu Hause und im Ausland sicher. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass der Westen nicht mehr alles wohlwollend hinnimmt, was der neue Präsident plant.

So haben Botschafter der Europäischen Union und Kanadas in dieser Woche einen Gesetzentwurf Selenskyjs kritisiert. Der Präsident schlug darin unter anderem vor, die Zahl der Richter am Obersten Gericht zu halbieren – von bisher maximal 200 auf 100. Einer solchen Entscheidung solle doch eine gründliche Analyse vorausgehen, monierten die Botschafter in einem Brief an zuständige Parlamentsausschüsse - und das zu Recht.

Das Oberste Gericht ist eine der wenigen relativ unabhängigen Instanzen. Seine Sternstunde war bei der "Orangenen Revolution" 2004, als es eine Wiederholung der gefälschten Präsidentenwahl angeordnet hatte. Damals gewann Viktor Juschtschenko. Als der unterlegene Kandidat Viktor Janukowitsch später Präsident wurde, rächte er sich und entmachtete das Gericht. Unter seinem Nachfolger Petro Poroschenko wurde es neu aufgestellt und mit weiteren Richterstellen besetzt. Die Hälfte davon will Selenskyj nun loswerden. Das wird das Oberste Gericht schwächen.

Die Richterauswahl als Kontrollinstrument

Der zweite Anlass für Kritik westlicher Diplomaten betrifft eine Kommission, die bei der Richterauswahl auf allen Ebenen eine wichtige Rolle spielt. Selenskyj schlägt vor, ihre Mitglieder und einige andere Richter aus der Zeit seines Vorgängers Poroschenko in ein entsprechendes Gesetz aufzunehmen. Das würde für einige Entlassung und Berufsverbot bedeuten. Eine überzeugende Begründung dafür aber fehlt.

Das sogenannte "Lustrations-Gesetz" richtet sich gegen Beamte aus der Zeit von Janukowitsch und soll einer "Machtreinigung" dienen. Im Sommer schlug Selenskyj vor, auch alle hochrangigen Beamten aus der Poroschenko-Ära in das Gesetz aufzunehmen – und damit gleichfalls zu entmachten – trotz vielfach geäußerter Kritik. Die neue Regelung sieht wie ein Versuch Selenskyjs aus, die umstrittene Idee doch noch schrittweise umzusetzen. Das Gesetz wurde am Donnerstag verabschiedet.

So baut der Präsident seine Macht aus

Mit immer neuen Gesetzesinitiativen setzt sich in der Ukraine eine als Volkswille getarnte und im Kern autoritäre Tendenz fort. Jüngstes Beispiel ist die am Freitag vom Parlament gebilligte vorzeitige Entlassung der Wahlkommission. Die neue Besetzung dürfte Selenskyjs Plänen freundlicher gegenüber eingestellt sein, etwa Volksabstimmungen, die der neue Präsident im Wahlkampf angekündigt hatte.

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DW-Redakteur Roman Goncharenko

Besonders bedenklich sind Verfassungsänderungen. So soll das Parlament von 450 auf 300 Abgeordnete verkleinert werden und damit einfacher zu kontrollieren sein; die Parlamentarier werden erpressbar, etwa durch die beschlossene Abschaffung der Immunität oder den angestrebten Mandatsentzug für Sitzungsschwänzer. Gleichzeitig möchte der Präsident das Recht bekommen, die Chefs des Staatlichen Ermittlungsbüros und des Nationalen Antikorruptionsbüros zu ernennen und zu entlassen. Mit dem Gesetzentwurf über eine Amtsenthebung des Präsidenten stellte sich Selenskyj nur scheinbar den Parlamentariern gleich. Wer genau hinschaut, wird erkennen: Das Gegenteil ist der Fall, denn ein ohnehin schwieriges Impeachment-Verfahren wird damit praktisch unmöglich.

Doch genau hinzuschauen ist derzeit schwierig in der Ukraine. Bei der Menge an Gesetzentwürfen zu hochkomplexen Themen verlieren auch Fachleute den Überblick. Geschweige denn die Abgeordneten, von denen die meisten – ähnlich wie der Präsident selbst – bis vor kurzem wenig Ahnung von politischer Tätigkeit hatten. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Präsidentenmehrheit im Parlament immer neuen Gesetzen wie am Fließband zustimmt. Die überschaubare Opposition hat kaum eine Chance, ihrer Kontrollfunktion gerecht zu werden.

Das Dilemma des Westens

Der Westen als wichtigster Geldgeber der Ukraine hätte mehr Hebel in der Hand, steht aber vor einem Dilemma. Es fällt ihm schwer, Selenskyj zu kritisieren, weil der mit 73 Prozent gewählte Präsident ein beispiellos hohes Vertrauen seiner Landsleute genießt. Noch wichtiger – im Westen scheint es die Hoffnung zu geben, dass mit Selenskyj eine Lösung des Konflikts mit Russland möglich ist. Der jüngste Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew hat diese Hoffnung bestärkt. Es könnte sein, dass der Westen im Falle einer Annäherung zwischen Russland und der Ukraine in die Versuchung kommt, auf innenpolitische Fehlentwicklungen in der Ukraine ein Auge zuzudrücken. Das wäre verständlich und doch kurzsichtig.

Es drängt sich immer mehr der Verdacht auf, dass Selenskyj seine Macht aus- und Demokratie abbaut. Wenn der Westen das hinnimmt, macht er sich unglaubwürdig. Und er riskiert mittelfristig, sich mit Folgen eines neuen Aufstands in seiner direkten Nachbarschaft beschäftigen zu müssen. Die bisher vorsichtige Kritik sollte lauter werden. Die Ukraine braucht eine klare Botschaft – nicht nur von westlichen Botschaftern. Politische Schwergewichte in Europa, aber auch in Nordamerika sollten sich positionieren. Die Schonfrist für Selenskyj ist vorbei.