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Politik

Erdogan und die "Feinde der Türkei"

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
23. August 2017

Der türkische Präsident schlägt verbal um sich in einer Art, die man längst überwunden glaubte. Aber das ist nicht alles, meint Kersten Knipp. Viel schlimmer: Er hält die Nation gefangen in den Mythen der Geschichte.

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Recep Tayip Erdogan hält Rede in Ankara
Bild: picture alliance/AP Photo

Dem türkischen Präsidenten bei seinen Ausfällen zu lauschen, hat etwas Rührendes. "Er kennt seinen Platz nicht", sagte Erdogan dieser Tage etwa über den deutschen Außenminister Sigmar Gabriel. "Für wen hältst du dich, dass du zum Präsidenten der Türkei sprichst? Sprich mit meinem Außenminister!"

Zehntausende in den 1960er- oder 1970er-Jahren geborene Deutsche werden solche Sätze nicht ohne Nostalgie zur Kenntnis nehmen: Sie dürften sich durch den türkischen Präsidenten an jenen Typus des stramm-strengen Lehrers erinnert fühlen, gerne etwa der Fächerkombination Latein und Griechisch, der in ihrer Schulzeit zu den letzten Vertretern jenes autoritären Lebensgefühls gehörte, dessen Auflösung damals ganz rapide voran schritt.

Dieser Typus des Lehrers meinte, seine Schüler mit besonders übellaunigem Verhalten beeindrucken und zur Unterwerfung zwingen zu können. Er bekam aber in seiner Verbissenheit ob der neuen, locker gewordenen Sitten kaum mit, wie sehr er längst aus der Zeit gefallen war, wie wenig er den Geist der Gegenwart noch verstand und ihm gerecht wurde. Die alten Herren bemerkten ihr anachronistisches Gehabe nicht. Sie konnten einem leid tun. An das Drama dieser verhärmten Generation erinnern aus deutscher Perspektive nun die Ausfälle des türkischen Präsidenten.

Der große Manipulator

Nun verdient Recep Tayyip Erdogan gewiss kein Mitleid. Im Gegenteil: Das autoritäre Gehabe - wenn er etwa die deutsche Kanzlerin oder den Bundesaußenminister duzt - ist letztlich nichts anderes als der Versuch historischer Manipulation. Durch sein rüpelhaftes Verhalten inszeniert sich Erdogan als starker Mann - und damit als Beschützer, als "Vater" der Türken. Ganz so, wie es Mustafa Kemal "Atatürk" - der "Vater der Türken" - einstmals tat, wenn auch mit erheblich besseren Manieren.

Knipp Kersten Kommentarbild App
DW-Autor Kersten Knipp

Die durchaus intendierte Nähe zu Atatürk zeigt aber auch, wie sehr sich Erdogan selbst in den Fallstricken der Geschichte verfangen hat: Immerhin ist Atatürk, Erdogans Vorbild und imaginärer Rivale, bereits vor fast 80 Jahren gestorben.

Von dem durch und durch säkular orientierten Atatürk sucht sich Erdogan durch Berufung auf das osmanische und zugleich das islamische Erbe seines Landes abzugrenzen. Doch der verbissene Rekurs auf die Ideologie verliert sich längst im ästhetisch Beliebigen und politisch Belanglosen und macht alle Unterschiede zunichte.

Denn beide Staatsmänner eint die neurotische Angstkultur, die sie nach Kräften ausbeuten. Entstanden ist diese in den letzten Jahrzehnten des Osmanischen Reichs - als dieses im Westen als "kranker Mann am Bosporus" galt. Damals entwickelten viele Türken angesichts des rapiden Machtverfalls das beklemmende Gefühl, rundum nur von Feinden umgeben zu sein. Die politischen Fehlentscheidungen des Osmanischen Reichs zogen herbe territoriale Verluste nach sich, die den Türken das Gefühl vermittelten, ihre Nachbarn meinten es nicht gut mit ihnen. Dies ist die Geburtsstunde des türkischen Nationalismus.

In der Mythenkammer der Geschichte

Dieses Gefühl hat sich die politische Elite des Landes seither auf zynische Weise zunutze gemacht. Republikgründer Atatürk schlug ebenso nationalistische Töne an wie heute Erdogan. Beiden gemeinsam ist der Wille, ihre Landsleute im Bann der Vergangenheit zu halten, sie nicht aus der Schreckenskammer der nationalen Mythen zu entlassen.

Symbolische Selbstüberhöhung, um den realen Machtzerfall zu kompensieren: Dieser in den Anfangsjahren der Republik vielleicht noch entschuldbare Mechanismus hält heute, bald hundert Jahre später, nach wie vor an. Er produziert jenen giftigen Chauvinismus, auf dem Erdogan nun zum Sieg bei den türkischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 zu surfen hofft.

Für dieses Ziel ist ihm kein Preis zu hoch. Er scheut sich nicht einmal, einen Teil seiner Landsleute weiter in den Mythen der Vergangenheit zu halten. Um des persönlichen politischen Erfolges willen ist er bereit, ihre Ankunft in der Gegenwart zu verhindern. In Deutschland mag Erdogans Rhetorik lächerlich und hoffnungslos veraltet erscheinen. In der Türkei aber blockiert sie die kulturelle und damit auch politische Entwicklung. Das ist der Punkt, von dem an Erdogans reaktionäre Attitüden nicht einmal mehr ansatzweise lustig sind.

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika