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Es muss nicht immer Twitter sein

5. Januar 2016

Politische Kommunikation steckt voller Abgründe. Die Flüchtlingskrise liefert dafür ein Lehrstück. Denn Kanzlerin und große Koalition in Deutschland agieren nicht immer geschickt, meint Christian F. Trippe.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel Besuch BAMF Außenstelle
Bild: picture-alliance/dpa/B. v. Jutrczenka

Ihren Parteifreunden erklärt Angela Merkel sich und ihre Flüchtlingspolitik immerhin auf Parteitagen. Den Bürgern erläutert sie in einer quotenstarken Talkshow "wer ihre Bundeskanzlerin ist" und warum sie gerade diese und keine andere Flüchtlingspolitik macht. Den Deutschen Bundestag aber wählte sie bisher nicht als Bühne für eine Debatte über ihre Entscheidungen, die - darin sind sich Kritiker wie Befürworter immerhin einig - Deutschland fundamental verändern werden.

Das deutsche Parlament, dies nur am Rande, hat auch nicht gerade auf Sondersitzungen gedrängt und die Kanzlerin zu stellen versucht. In einem Land, das seine politische Moral gerne an gesinnungsethischen Vorstellungen ausrichtet, ist auch kaum Raum für eine offene Debatte über das Für und Wider der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik. Die Fraktionschefin der oppositionellen Grünen zeigte sich im Fernsehen, wie sie - selbst heulend - auf der Insel Lesbos schluchzende Flüchtlingskinder tröstet. Wäre es nicht eher Aufgabe der Opposition, im Parlament eine schlüssige Integrationspolitik für die vielen Neuankömmlinge in Deutschland einzufordern?

Die Koalition erstickt Debatten im Keim

Die große Koalition tut ein Übriges und erstickt lebendigen, politischen Streit im Keim. Folglich hat sich die Bundesrepublik mit der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung und der rechtspopulistischen Partei AfD eine regelrechte "APO" eingefangen, eine außerparlamentarische Opposition von rechts. Damit geht eine Dauerabfolge poltischer Talkshows einher, die seit Monaten nur noch ein Thema zu kennen scheinen. Auch die Medien kompensieren, was im Parlament liegen bleibt.

Dabei hat die Klage über die Verlagerung des Politischen vom Rednerpult des Parlaments in die Talkshowsessel etwas Allfälliges. Schon Helmut Schmidt, der von den Deutschen über den Tod hinaus verehrte ehemalige Bundeskanzler, hatte vor Jahrzehnten einen Hang zur "Fernsehdemokratie" beklagt - die Möglichkeiten des Mediums aber verstand auch er virtuos für sich und seine politischen Ziele zu nutzen. So mag es heute bestenfalls noch als Frage des Timings - oder eben des Stils - durchgehen, ob ein Regierungschef zuerst das Fernsehstudio wählt, um seine Politik zu verkaufen, bevor er im Bundestag den politischen Kontext nachreicht.

Trippe Christian F. Kommentarbild App
DW-Sonderkorrespondent Christian F. TrippeBild: DW

Stilfragen sind keine Systemfragen. Dennoch kann politische Kommunikation so entgleisen, dass sie Dinge auslöst, die sie gar nicht wollte, die sie wortwörtlich 'nicht auf dem Schirm' hatte. Als sich im Spätsommer tausende Flüchtlinge in Ungarn stauten, als ihre humanitäre Lage immer schlimmer wurde, da entschloss sich die Bundesregierung, die Regeln des sogenannten Dublin-Verfahrens außer Kraft zu setzen - und die Menschen unbürokratisch über die Grenze zu lassen. Mit einer Twitter-Meldung des zuständigen Bundesamtes kommunizierten die Deutschen das vorläufige Ende der europäischen Asylregelungen in alle Welt. Dieser Tweet mit seinen dürftigen Worten löste eine veritable EU-Krise aus - ungewollt natürlich, aber schlechtes politisches Handwerk war es allemal.

Haben Merkels Selfies die Flüchlinge erst animiert?

Bis heute bleibt unklar, ob diese unvorsichtige Twitter-Meldung den Flüchtlingsstrom erst so richtig in Gang setzte. Weil er Schleuser und Schlepper animierte, in den Flüchtlingslagern auf Kundenfang zu gehen. Ähnlich umstritten bleibt, welche Wirkung die Selfies von Angela Merkel entfaltet haben - Kanzlerin mit Flüchtling, Wange an Wange, im Hintergrund die Notunterkunft. Die Wirkung dieser Bilder wird sich wohl nie empirisch fassen lassen. Eine durchdachte Kommunikationsstrategie steckte sicherlich nicht dahinter.

Postings und Selfies, Tweets und Talkshowauftritte von Spitzenpolitikern sind keine Frage der Moral, sondern lediglich Geschmackssache - doch es sind immer hochpolitische Akte.

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