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Zu komplex für Dichter und Denker

8. August 2018

Deutschland exportiert zu viel und importiert zu wenig - und viele sind darauf auch noch stolz. Die Kritik an diesem Geschäftsmodell nimmt zu - doch die Deutschen wollen sie nicht verstehen, meint Andreas Becker.

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Bild nach H.Bosch, Der Taschenspieler (Kopie)
Der Taschenspieler von Hieronymus Bosch, um 1450Bild: picture-alliance/akg-images

In Deutschland, dem einstigen "Land der Dichter und Denker", scheinen komplexe Gedanken mehr und mehr verpönt. Dieser Eindruck entsteht, blickt man auf die wirtschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre: Die Schuldenkrise, an der die Währungsunion fast zerbrochen wäre, war aus deutscher Sicht ein Problem der "Krisenstaaten", oft auch "Sorgenkinder" genannt. Griechen, Portugiesen, Spanier, Italiener - alle hätten sie "über ihre Verhältnisse gelebt", sich "bis über beide Ohren verschuldet", anstatt einfach zu sparen und härter zu arbeiten - das ist noch heute die in Deutschland gängige Erklärung.

Sie war an den Stammtischen ebenso zu hören wie in den Medien und im politischen Berlin, wo der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die sparsame schwäbische Hausfrau zum Vorbild ausrief. Ähnlich argumentierten die meisten deutschen Ökonomen - und zeigten damit auch die intellektuelle Dürre, die hierzulande in dieser Disziplin herrscht.

Alles richtig gemacht

Die Deutschen sehen sich noch immer im Recht - und verweisen auf die gute Konjunktur. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordtief, die Wirtschaft wächst, und deutsche Autos und Maschinen verkaufen sich weltweit prächtig. Mit anderen Worten: Wir haben alles richtig gemacht.

Maurice Obstfeld, der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), gehört zu denen, die seit Jahren widersprechen. Wie ein geduldiger Lehrer, der zu einem begriffsstutzigen Kind spricht, hat er in einem Beitrag für die Tageszeitung "Die Welt" einen neuen Versuch unternommen, Gehör zu finden für sein Argument: Die Deutschen kaufen, gemessen an ihren hohen Exporten, viel zu wenig aus dem Ausland ein.

Die Folge ist ein Exportüberschuss von 122 Milliarden Euro allein im ersten Halbjahr. Viele Deutsche sehen die Zahl sogar mit Stolz: Viel eingenommen, wenig ausgegeben - die schwäbische Hausfrau lässt grüßen.

Verschuldung als Geschäftsmodell

Für Obstfeld dagegen sind hohe Überschüsse in der Leistungsbilanz eine Gefahr für den Freihandel und die globale Finanzstabilität. Dauerhaft deutlich mehr exportieren als importieren, das bedeutet nichts anderes, als sich die Verschuldung der anderen zum eigenen Geschäftsmodell zu machen.

Becker Andreas Kommentarbild App
Andreas Becker, DW-Wirtschaftsredaktion

Nach IWF-Berechnungen gingen im vergangenen Jahr rund 20 Prozent der weltweiten Leistungsbilanzüberschüsse auf das Konto Deutschlands. Mit elf Prozent folgte China auf Platz zwei.

Obstfeld ist mit seiner Kritik nicht allein. US-Präsident Trump schimpft auf die deutschen Überschüsse, die Industrieländerorganisation OECD beklagt sie und die EU-Kommission hat sogar eine Obergrenze festgelegt. Überschüsse von mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung stuft sie als "stabilitätsgefährdend" ein. Deutschland liegt seit Jahren deutlich darüber. Theoretisch könnte die EU-Kommission ein Strafverfahren einleiten, belässt es aber bei freundlichen Ermahnungen.

Fetisch Sparsamkeit

Was können wir dafür, wenn unsere Produkte so beliebt sind? So lautet das Lieblingsargument auf deutscher Seite. Das allerdings geht völlig am Kern der Sache vorbei. Denn es ist ja eben nicht die deutsche Exportstärke, die in der Kritik steht, sondern die Importschwäche. Und die hat Ursachen, die in deutscher Verantwortung liegen.

So stagnierte der Binnenkonsum nach Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung fast 20 Jahre lang, bevor er zuletzt wieder etwas zulegte. Ähnlich verlief die Entwicklung der Löhne, vor allem bei mittleren und unteren Einkommen. Und die auf den ersten Blick glänzende Arbeitsmarktstatistik ist auch dem starken Anstieg des Niedriglohnsektors und der prekären Beschäftigungsverhältnisse zu verdanken.

Hinzu kommen die zu geringen Investitionen der öffentlichen Hand. Straßen und Brücken sind marode, pünktliche Züge selten, die Energiewende kommt nicht voran, die Digitalisierung hinkt hinterher. Gleichzeitig müssen klamme Kommunen sparen, wo es geht: bei öffentlichen Schwimmbädern, Kultureinrichtungen, Pflege und Kindertagesstätten. Die "schwarze Null", von der Finanzminister gerne sprechen, hat in Deutschland Fetischcharakter, sagte schon Frankreichs Präsident Macron.

Unzufriedenheit und Sündenböcke

Die Bundesregierung bemüht sich inzwischen, die Kritik an den Überschüssen nicht mehr ganz so brüsk abzubügeln wie früher. Sie verweist auf zuletzt gestiegene Löhne und Investitionen. Und doch könnte sie mehr tun. Nur ein Beispiel: Während die Mieten in vielen Innenstädten für viele unbezahlbar werden, gibt es heute weniger als halb so viele Sozialwohnungen wie 1990.

Verrottende Infrastruktur, hohe Mieten, fehlende Kita-Plätze - all das schürt Unzufriedenheit, die auch politisch instrumentalisiert wird. Denen (früher "den Griechen", inzwischen auch: "den Flüchtlingen") werfen wir das Geld hinterher, doch für normale Bürger ist kein Geld da, heißt es dann.

Dass die deutsche Fixierung aufs Sparen und die gleichzeitige Zurückhaltung bei Löhnen und Investitionen die Krise mit ausgelöst hat, wie es Obstfeld und andere nahelegen, ist als Gedanke wohl einfach zu komplex. Vielleicht sollte Donald Trump sich nochmal des Themas in einem Tweet annehmen.

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.