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Frankreichs Überreaktion

17. November 2015

Nach den Terroranschlägen von Paris bemüht die französische Regierung erstmals in der Geschichte der Europäischen Union den Beistandsartikel 42.7. Das ist völlig überzogen, meint Christoph Hasselbach.

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Belgien Rat der EU Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian
Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian beim Treffen mit seinen EU-Kollegen am Dienstag in BrüsselBild: Reuters/D. Alvarez

Nach allen Maßstäben waren die islamistischen Anschläge auf unschuldige Menschen in Paris verheerend. Das Land erlebte am vergangenen Freitag die schlimmsten Attentate seit dem Zweiten Weltkrieg. Und der Urheber steht fest: Die Terrormiliz "Islamischer Staat" aus dem Mittleren Osten sowie ihre Helfer in Frankreich und anderen westlichen Ländern.

Aber steht Frankreich damit wirklich im Krieg, wie Präsident Hollande sagt? Nach einem kurzen Moment der Trauer und des Innehaltens hat Hollande - wie zur Bekräftigung seiner Entschlossenheit - mutmaßliche IS-Ziele in Syrien bombardieren lassen.

Die ganz große Keule

Die NATO-Partner hat er bisher nicht um militärischen Beistand gebeten. Doch Verteidigungsminister Le Drian beruft sich nun erstmals in der Geschichte der Europäischen Union auf Artikel 42.7 des EU-Vertrages und bittet die übrigen EU-Mitgliedsländer um "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" wegen eines "bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet" Frankreichs, wie es dort wörtlich heißt. Weder hatte die spanische Regierung nach den Attentaten von Madrid 2004 mit fast 200 Toten diesen Schritt getan noch die britische nach denen von London 2005.

Der Artikel 42.7 entspricht auf EU-Ebene etwa dem NATO-Beistandsartikel 5 und ist die größte Keule, die die Europäische Union für solche Fälle im Schrank hat. Sie ist nicht nur viel zu groß - sie ist ungeeignet und kontraproduktiv. Denn damit tut die französische Regierung genau das, was sich der IS wünscht: Sie lässt sich mental auf einen umfassenden Konflikt ein, der gerade nach dem Willen des IS ein Kampf der Kulturen sein soll. Islamisten dürften es jetzt noch leichter haben, anfällige junge Leute für den Dschihad zu gewinnen.

Christoph Hasselbach (Foto: DW/M.Müller)
DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Ob der IS in Syrien militärisch zu besiegen ist, ist zweifelhaft, aber immerhin nicht ausgeschlossen. Dass aber ein "Krieg" gegen militante Islamisten in den liberalen Demokratien Europas nicht zu gewinnen ist, das steht in jedem Fall fest. Dazu kommt, dass die Kriegsrhetorik die Tendenz noch verstärken wird, in jedem Muslim einen potenziellen Attentäter zu sehen.

Europäer werden vereinnahmt

Das große Problem für die europäischen Partner ist, dass sie sich der französischen Bitte praktisch nicht verweigern können. Das würde unsolidarisch wirken. Erwartungsgemäß haben sie daher einstimmig ja gesagt. Doch die französische Regierung hat sie damit zu einer von ihr bestimmten, zweifelhaften Politik vereinnahmt.

Die Unterstützung Frankreichs kann zwar sehr unterschiedlich aussehen. Und sie muss nicht zwangsläufig militärisch sein. Doch Le Drian hat bereits gesagt, er denke bei der Hilfe zum Beispiel an die Militäreinsätze in Syrien, dem Irak und in Afrika. Der Druck auf Deutschland und andere zurückhaltende Staaten wird wachsen, sich an militärischen Aktionen zu beteiligen.

Gelassenheit ist wahre Stärke

Der Grund für die Überreaktion der Regierung Hollande dürfte nicht in erster Linie die Angst vor dem Islamismus sein, sondern Angst vor dem rechtsextremen Front National kurz vor den Regionalwahlen in Frankreich. Ein als schwach geltender, unbeliebter Präsident gibt jetzt den starken Mann, um den Rechten nicht noch mehr Auftrieb zu geben, als sie ohnehin schon haben.

Doch das Kalkül ist falsch. Ein starker Präsident müsste dem Volk sagen, dass sich Frankreich seinen Lebensstil und seine Freiheit von niemandem nehmen lässt. Statt von Krieg zu reden, müsste er stoische Ruhe ausstrahlen. Viele Franzosen demonstrieren in diesen Tagen ein solches Jetzt-erst-recht. Sie versuchen, inmitten ihrer Ängste, und gerade auch im Umgang mit Muslimen, soviel Normalität wie möglich zu leben. Das ist die richtige Botschaft.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik