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Politik

Im Windschatten der Weltkrise

22. Juni 2019

Aufruhr erschüttert Georgien. In Tiflis wurden hunderte Bürger verletzt, der Parlamentspräsident trat zurück. Was als kleine Krise in einem kleinen Land begann, könnte bald größer werden, meint Christian F. Trippe.

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Georgien Protest der Opposition gegen Parlamentspräsident Kobachidse in Tbilisi
Proteste auf den Stufen vor dem Parlamentsgebäude in TiflisBild: picture-alliance/AP Photo/S. Aivazov

Das Parlamentsgebäude im Herzen von Tiflis ist in der jüngeren Vergangenheit Georgiens immer der Brennpunkt des Geschehens gewesen. Auf den Stufen des Parlaments endete vor 16 Jahren die sogenannte "Rosenrevolution"; nach wochenlangen Protesten wurde hier ein tiefgreifender Machtwechsel vollzogen. Eine Dekade zuvor hatte hier mit dem Sturm auf das Parlamentsgebäude in den letzten Tagen des Jahres 1991 der georgische Bürgerkrieg begonnen. Der Krieg führte zur Abspaltung zweier Gebiete im Norden und Westen des Landes. Abchasien und Süd-Ossetien sind heute winzige, alleine nicht lebensfähige De-Facto-Staaten. Wirtschaftlich sind beide eng an Russland angelehnt. Russland unterhält dort zudem Garnisonen mit tausenden Soldaten und stützt so die beiden Marionetten-Regime.

Vor dem Parlament in Tiflis liegt ein mächtiger Gedenkstein. Er erinnert an die 21 Bürger, die dort am 9. April 1989 ihr Leben ließen, als sowjetische Truppen eine Kundgebung für die Loslösung Georgiens von Moskau niederschlugen. Damals gehörte Georgien noch zur Sowjetunion, und das Parlamentsgebäude beherbergte den Obersten Sowjet der Kaukasusrepublik. Es gibt keinen anderen Ort in Tiflis, der derart mit Symbolik und schmerzhafter zeithistorischer Erfahrung gesättigt wäre wie das Parlamentsgebäude. 

Ein Russe auf dem Stuhl des georgischen Parlamentspräsidenten

Umso stilloser die Entscheidung, den Kongress der Parlamentarischen Versammlung orthodoxer Länder genau hier abzuhalten. Denn diese Versammlung wird derzeit von Sergeij Gawrilow geleitet, einem russischen Politiker, Mitglied der kommunistischen Partei und Apologet großrussischer Ambitionen. Geboren wurde Gawrilow in Zentralrussland, was ihn nicht davon abhielt, Georgien als seine "Heimat" zu bezeichnen - in den Ohren vieler Georgier eine Provokation. Dass er als Vorsitzender des Kirchenparlaments auf dem Stuhl des georgischen Parlamentspräsidenten Platz nahm, brachte das Fass zum Überlaufen und tausende Demonstranten auf die Straße.

Sergey Gavrilov
Das Bild, das die Proteste auslöste: Sergeij Gawrilow auf dem Sessel des georgischen ParlamentspräsidentenBild: picture-alliance/Anadolu Agency/D. Kachkachishvili

Die politische Leidenschaft in Georgien ist leicht entflammbar. Dabei unterscheiden sich die großen politischen Lager und ihre Parteien in der Ordnungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum. Einzig markanter Streitpunkt ist das Verhältnis zu Russland. Soll man mit dem Land, das mit Abchasien und Süd-Ossetien ein Fünftels des Staatsgebietes besetzt hält, überhaupt reden? Oder muss nicht der aggressiven Macht im Norden die kalte Schulter gezeigt werden? Sollte nicht ausschließlich und zielstrebig Kurs auf EU und NATO genommen werden? Das ist die Bruchlinie der georgischen Politik. Und genau an dieser Abrisskante tobt der Streit um die Tagung des  Kirchenparlaments in Tiflis.

Deutsche Welle Dr. Christian F. Trippe TV Berlin
DW-Redakteur Christian F. TrippeBild: DW/B. Geilert

Die mächtige orthodoxe Kirche Georgiens fremdelt seit längerem mit dem pro-westlichen Kurs ihres Landes. Denn der Westen steht in den Augen konservativer Kirchenkreise für sittlichen Niedergang. In diesem Unbehagen gegenüber der liberalen Moderne wird die georgische Kirche nach Kräften von der großen russisch-orthodoxen Kirche bestärkt. Hier wird nun endgültig hochpolitisch, was zunächst wie eine innergeorgische Belanglosigkeit aussah. Denn Russland versucht seit längerem, mithilfe seiner Staatsmedien und seiner staatlich alimentierten Kulturorganisationen Einfluss in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu gewinnen. Die orthodoxe Kirche Russlands ist dabei gerne behilflich. 

Kultureller Einfluss ist für Russland kein Selbstzweck

Die russische Machtelite rund um Präsident Wladimir Putin denkt imperial. Kultureller Einfluss in ehemaligen Sowjetrepubliken und Satelliten ist für sie kein Selbstzweck. Sie will diesen Einfluss, um ihn sich irgendwann in harter politischer Münze auszahlen zu lassen. Das imperiale Denken der russischen Regierung wird von geopolitischen Kategorien bestimmt. Diese Kategorien beunruhigen nicht nur jene westlich orientierten Georgier, die ihrer gegenwärtigen Regierung misstrauen.

Ein Blick auf die Landkarte macht deutlich: Georgien ist eine kleine pro-westliche Insel im Kaukasus; im Norden liegt Russland, im Süden liegen das von Russland abhängige Armenien und die immer Russland-freundlichere, immer anti-amerikanischere Türkei. So gesehen ist der innenpolitische Aufruhr in Georgien Teil des globalen machtpolitischen Spiels dieser Jahre. Tiflis liegt dabei noch im Windschatten jener Weltkrise, die sich am Persischen Golf zwischen den USA und dem Iran entwickelt.