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Kommentar: Grenzwertig, aber richtig

Marcel Fürstenau, Berlin14. September 2015

Bundeskanzlerin Merkel hatte ihren Landsleuten Flexibilität im Umgang mit den vielen Flüchtlingen verordnet. Das war mutig, sympathisch und weniger widersprüchlich, als viele jetzt behaupten, meint Marcel Fürstenau.

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Ein Flüchtling macht beim Besuch von Kanzlerin Merkel in einer Flüchtlingsunterkunft ein sogenanntes Selfie von sich und der deutschen Regierungschefin.
Bild: picture-alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Ja, die Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen kamen plötzlich. Ja, der unterbrochene Zugverkehr zwischen Deutschland und Österreich war eine Zumutung. Nein, diese Maßnahmen waren und sind kein Skandal. Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert hat recht, wenn er am Tag nach den überraschenden Entscheidungen verkündet: "Die Bundesregierung handelt immer so, wie die Lage es erfordert." Eine Woche zuvor ließ sie die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ins Land. Dafür wurde sie mehr gelobt als getadelt. Jetzt ist es umgekehrt, weil sie die Schotten vermeintlich dicht macht. Tatsächlich nimmt sie damit Druck aus dem Kessel. Das war nötig, um eine Atempause einzulegen, um Luft zu holen für die nächsten gewaltigen Schritte.

Deutschland wird weiter viele, sehr viele Flüchtlinge aufnehmen. Mehr als alle anderen europäischen Länder zusammen. Merkels Stellvertreter im Kanzleramt, SPD-Chef Sigmar Gabriel, geht inzwischen von einer Million aus. Wer behauptet, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten, hat recht. Das galt auch schon, als Innenminister Thomas de Maizière die Zahl der erwarteten Flüchtlinge in diesem Jahr mit 800.000 bezifferte und damit die Prognose aus dem Frühjahr mal eben verdoppelte. Es mag ja sein, dass beim Jonglieren mit diesen Zahlen taktische Überlegungen im Spiel waren. Nach dem Motto: Bloß keine Ängste in der Bevölkerung schüren!

Die Bevölkerung ist oft weiter als die Politik

Sollte es derlei Gedanken im Regierungslager gegeben haben, hätten sie sich als unbegründet erwiesen. Die Reaktion der überwältigenden Mehrheit in Deutschland zeigte, dass die Menschen bei diesem in jeder Hinsicht bewegenden Thema oft weiter waren oder schneller sind als die Politik. Und mit Politik sind alle gemeint - auch die Opposition im Bundestag, auch die Länder, auch die Städte und Kommunen. Die zu uns kommenden Flüchtlinge, von denen viele auf Dauer bleiben werden, sind eine nationale Aufgabe. Dabei sind die Notleidenden Subjekt und Objekt zugleich. Als Opfer von Kriegen, aber auch als Opfer der Folgen einer aus anderen Gründen verfehlten Politik gebührt ihnen humanitäre Hilfe.

DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel Fürstenau
DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel FürstenauBild: DW/S. Eichberg

Diese Hilfe ist für Menschen aus Syrien und manch anderen Ländern die Rettung vor dem Tod. Vor diesem Hintergrund ist und bleibt eine oft unkoordiniert oder widersprüchlich anmutende Politik ein hoher Wert an sich. Das wissen wirklich um ihr Leben bangende Flüchtlinge (hoffentlich) zu schätzen. Und natürlich müssen die Belange der angestammten Bevölkerung beachtet werden. Sonst stößt Solidarität zwangsläufig an Grenzen, die nicht das Geringste mit Fremdenangst oder gar Hass zu tun haben.

Deutschland ist und bleibt vorbildlich

So aussichtslos und verfahren die Lage zuweilen auch erscheinen mag, es muss weiter improvisiert werden. Auf allen Seiten. Wichtig ist dabei ein ehrlicher, (selbst-)kritischer Umgang. Horrorszenarien sind ebenso fehl am Platz wie Schönfärberei. Die inzwischen zu beobachtende Bereitschaft anderer Länder, der großzügigen Flüchtlingspolitik Deutschlands zumindest ein wenig nachzueifern, darf sich die Bundesregierung als Erfolg anrechnen.

Dass Merkel nun für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen Applaus vom ungarischen Anti-Europäer Viktor Orban bekommt, sollte den wahren Europäern Ansporn sein. Ansporn, an ihrem Kurs der Menschlichkeit festzuhalten. Dass dieser Kurs schlingerhaft ist, auch falsche Koordinaten beinhaltet - wen wundert's? Wir alle sind Zeugen einer Völkerwanderung voller Tragik und Verzweiflung, Glück und Rührung. Deutschland hat sich dabei Rückschlägen und Widersprüchen zum Trotz bewährt.