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Heute sind wir alle Jogi

Volker Wagener4. Juli 2014

Was Politik selten gelingt, funktioniert beim Fußball automatisch: Das Männerspiel in kurzen Hosen schmiedet die Massen zusammen. Und alle mischen sich ein. Ein demokratisches Erweckungserlebnis, findet Volker Wagener.

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Fußball WM 2014: Das deutsche Team beim Training vor dem Viertelfinale gegen Frankreich (Foto: Franck Fife/AFP)
Bild: Franck Fife/AFP/Getty Images

Warum wir den Fußball so lieben? Ganz einfach: Wir können alle mitreden. Wir sind alle Jogi, alle Bundestrainer. Vor allem Weltmeisterschaften sind demokratische Urerlebnisse. Die Wahlbeteiligung mag sinken, aber wenn wieder ein neuer Weltmeister gesucht wird, melden sich sogar die zu Wort, die objektiv betrachtet keinen blassen Schimmer von der Abseitsfalle haben. Ob falsche Neun oder doppelte Sechs, ob 4-4-2-, 4-3-3- oder eher 4-5-1-Aufstellung, ob mit Philipp Lahm im Mittelfeld oder hinten rechts, bei Spielsystem, Taktik und Mannschaftsaufstellung haben wir alle eine Meinung. Ein Phänomen.

So viel Volksbeteiligung ist der Politik fremd

So viel bereitwillige Teilhabe der Massen gelingt politischen Parteien nur höchst selten. Wer versteht schon die Feinheiten der Mindestlohn-Debatte oder die kalte Progression im Steuerrecht? Themen, die den berühmten Bauch unserer Gesellschaft betreffen, aber sie emotionalisieren nicht. Sie bleiben abstrakt und fern der Lebenswirklichkeit der meisten. Fußball hat da eine ganz andere Wirkkraft. Der Ball wird zur Politik und unsere Mannschaft ist unsere Regierung. Merkel und Co. rücken in die zweite Reihe. Der Bundestrainer ist Kurzzeit-Bundeskanzler und dem wollen wir sagen, wo es lang gehen soll, gegen Frankreich und hoffentlich noch andere.

So viel basisdemokratische Einmischung sorgt bei Trainerstab und Mannschaft nicht nur für Freude. Die Kritik aus den Medien an der Art und Weise des Weiterkommens gegen Algerien hat die Nation aufgemischt. Vor allem die Wut-Rede von Nationalspieler Per Mertesackers darauf. Die Sozialen Netzwerke melden seitdem Rekordbeteiligungen und die Boulevardblätter rufen zu Volksabstimmungen auf: Wo soll Lahm spielen? Mit Klose von Beginn an? Und hat Manuel Neuer den schon abgeschafften Libero wieder neu erfunden? Vor allem aber die Frage: Sind wir bereit, einen dreckig zustande gekommenen Sieg - wie 1982 gegen Frankreich - gut zu finden, oder wollen wir mit Schön-Fußball untergehen?

DW-Redakteuer Volker Wagener (Foto: Per Henriksen/DW)
Volker Wagener, DW-RedakteurBild: DW

Gewinnen nach dem Rezept "Hamburger Obstsalat"

Am schönsten ist Gemeinschaft, wenn sie erfolgreich ist. Im Erfolgsfalle werden sich alle auf die Brust klopfen und es schon immer gewusst haben, wie "der Franzose" zu knacken ist. Für diejenigen, für die die Rasenschach-Strategien der Insider zu hoch sind, empfiehlt sich die Erinnerung an eine schlichte Fußballweisheit aus den 1980er Jahren. Einer Zeit, als der Hamburger SV noch Maßstäbe setzte. Horst Hrubesch, der Mittelstürmer des HSV, gab damals die Einfachheit des Fußballs zu Protokoll, die seitdem als Hamburger Obstsalat firmiert. Und die geht so: "Felix (Magath) die Kirsche zu Manni (Kaltz), der Bananenflanke zu mir. Ich Birne, Tor." Solche Vitamine brauchen wir ab 18 Uhr.

"Kämpfen, Hinfallen, Aufstehen, Siegen!"

Herrlich, in solch interaktiven Zeiten zu leben, in denen alle das Eine wollen, nämlich gegen Frankreich gewinnen. Und zwar so, wie es die Bedienung bei meinem Bäcker um die Ecke auf ihrem T-Shirt auf den Punkt bringt: "Kämpfen, Hinfallen, Aufstehen, Siegen!" Wie gesagt, Politik ist schwierig, Fußball ist einfach - eigentlich!

So ganz nebenbei beschert uns der allgemeine Fußballhype auch noch ein Erlebnis, das bis zur Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land eher ein akademisches Thema war: die Patriotismus-Frage. Klar ist: Fußball ist identitätsstiftend. Aber wie sehr, das ist für uns Deutsche noch eine relativ junge Erfahrung. Wie peinlich waren uns 68ern Schwarz-Rot-Gold und Nationalhymne über viele Jahre. Neidisch beäugten wir die Rituale der Franzosen, die nicht nur beim Fußball ihren patriotischen Gefühlen freien Lauf ließen. Die Zeiten sind vorbei. Selbst hartgesottene Theorie-Linke haben längst ihren deutschen Patriotismus entdeckt und halten dabei meilenweit Abstand von Übersteigerungen, die in die Kategorie Nationalismus fallen. Endlich normal, das fühlt sich gut an.