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Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
13. September 2015

Mit der Entscheidung, an der Grenze zu Österreich wieder Grenzkontrollen einzuführen, hat die Bundesregierung ihre bisherige Flüchtlingspolitik widerrufen. Das wirft eine schmerzhafte Frage auf, meint Kersten Knipp.

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Deutschland Flüchtlinge Grenzkontrollen Thomas de Maiziere
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Die Entscheidung kam plötzlich. "Zeitweilig" wolle Deutschland wieder Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich einführen, erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière auf einer überraschend einberufenen Pressekonferenz am Sonntagnachmittag. Deutschland helfe. Aber man dürfe die Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren.

Übersetzt in die Alltagssprache ist diese Erklärung nichts anderes als das Eingeständnis, dass die Praxis der letzten Wochen, syrischen Flüchtlingen unbegrenzt Asyl zu gewähren und sie ungehindert einreisen zu lassen, gescheitert ist. Über 60. 000 Menschen trafen seit Ende August allein in München ein - zu viel für die Stadt, zu viel auch für die Bundesrepublik, die der Situation nicht mehr Herr wurde. Bundesweit fehlt es an Unterkünften. In München mussten Flüchtlinge in der vergangenen Nacht erstmals auf dem Bahnhof schlafen.

De facto ist die Entscheidung für die zeitweilige Wiedereinführung von Grenzkontrollen auch das Eingeständnis, dass das Grundrecht auf Asyl in der Theorie zwar keine Obergrenzen kennt. In der Praxis aber ist diese bereits nach wenigen Tagen erreicht.

Kersten Knipp (Foto: DW)
Kersten Knipp

Dramatische Folgen

Die kurzfristigen Folgen dieses Eingeständnisses sind dramatisch. Der Zugverkehr zwischen Österreich und Ungarn wurde für zwölf Stunden ausgesetzt. 21 Hundertschaften Polizei rücken auf das deutsch-österreichische Grenzgebiet vor. In der Nähe der Grenzen zu Tschechien und Polen soll Agenturberichten zufolge die Schleierfahndung wieder ausgebaut werden. In anderen Worten: Die Flüchtlinge sollen Deutschland auch auf Umwegen nicht mehr erreichen können.

21 Hundertschaften: Ein riesiges Polizeiaufgebot, das sich nun gegen die Menschen stellen soll, die sich auf die Aussage verlassen hatten, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenzen. Sie werden sich betrogen fühlen, und nicht Wenige werden versuchen, das nun aufgehobene Versprechen für sich selbst noch umzusetzen. Nachdem das legal nicht mehr möglich ist, nun eben illegal, durch versteckten Grenzübertritt. Das sollen die Hundertschaften verhindern.

Reaktion in der arabischen Welt

Nach den Bildern von der "Willkommenskultur" werden nun diese Bilder um die Welt gehen. Sie werden auch in der arabischen Welt gesehen. Man kann nur hoffen, dass der Hinweis, Deutschland sei an seine Kapazitätsgrenzen gekommen, verstanden und gewürdigt wird. Wenn nicht, könnte Deutschland in den Augen zahlloser Araber vom gelobten sehr schnell zum geschmähten Land werden.

Erstaunlich wäre das nicht, denn in der arabischen Welt dürfte der Stand der innerdeutschen Diskussion nur den wenigsten bekannt sein. In Deutschland hatte sich in den letzten Tagen eine intensive Diskussion um das unbegrenzte Asylrecht entfaltet. Diese wurde weniger in den etablierten Medien selbst geführt, dafür umso entschiedener in den Leseforen. Viele Zuschriften drückten große Sorgen aus: Schaffen wir überhaupt so viele? Wie steht es um die Kapazitäten des Sozialstaats, der sich um die Asylbewerber kümmern muss? Wie steht es um die Möglichkeiten der kulturellen Integration? Viele Leser schrieben, sie fühlten sich in der Entscheidung übergangen.

Irritation der Nachbarstaaten

Die Entscheidung, Syrer ungehindert nach Deutschland einreisen zu lassen, hatte in den deutschen Nachbarstaaten, vor allen denen in Osteuropa, für erhebliche Irritationen gesorgt. Deren Vertreter wiesen darauf hin, dass dieses Versprechen eine kaum kalkulierbare Sogwirkung entfalte. Solange die europäischen Außengrenzen nicht gesichert seien, erklärten sie unter Berufung auf das Schengen-Abkommen, könne und dürfe es unkontrollierte Einreise nach Deutschland nicht geben.

Durch die Entscheidung von Sonntag dürfte der Anreiz, nach Deutschland zu kommen, erst einmal unterlaufen worden sein. Das schafft Raum, die dringend nötige Harmonisierung der Asylpolitik der EU-Staaten umzusetzen. Auch über Verteilungsquoten lässt sich nun, da die Flüchtlingsrouten erst einmal gekappt sind, wieder reden.

Schmerzhafte Entscheidungen

De facto hat die Entscheidung der Bundesregierung und der Bundesländer die Praxis der Asylpolitik der letzten Wochen in ihr Gegenteil verkehrt. Sie setzt Grenzen. Wo diese Grenzen liegen, wie hoch die Zahl jener Glücklichen ist, die das Land aufnimmt und wie hoch jener Unglücklichen, die nicht hineindürfen - diese Frage wird nun verstärkt diskutiert. Es ist eine der schmerzhaftesten und ethisch kompliziertesten Fragen überhaupt. Seit heute ist klar: Die Bundesrepublik muss sich dieser Frage stellen.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika