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Politik

Das richtige Unwort

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
19. Januar 2020

Heißzeit war das Wort des Jahres 2018, Klimahysterie das Unwort 2019. Das ist konsequent und logisch, denn der Klimawandel ist für jeden Menschen weltweit sichtbar mitten unter uns angekommen, meint Martin Muno.

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Das haus von Jack Egan und Cath Bowdler steht in Flammen
Bild: Jack Egan

"Ich will, dass ihr in Panik geratet." "Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es." Diese Worte fielen vor knapp einem Jahr, am 25. Januar 2019. Sie kamen aus dem Mund einer damals 16-jährigen schwedischen Schülerin, die heute jedes Kind kennt: Greta Thunberg.

Im Januar 2020 gewinnen diese Worte eine plastischere Bedeutung. Ein Teil unseres Hauses brennt buchstäblich - wenn wir die Erde als unser Haus verstehen. In Australien wird die Feuerwehr der Brände kaum noch Herr. Tausende Menschen fliehen, Millionen Tiere verenden in den Flammen. Selbst der langjährige Leugner des Klimawandels an der australischen Regierungsspitze, Scott Morrison, kommt nicht umhin, anzuerkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Erderwärmung und den heißen, trockenen Sommern gibt. Aber handeln tut er nicht. Stattdessen setzt er nach wie vor auf die Verbrennung von Kohle zur Energieerzeugung.

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DW-Redakteur Martin Muno

Auch Deutschland erlebt gerade, welch geringen Stellenwert der Kampf gegen den Klimawandel in den Köpfen wichtiger Wirtschaftsführer hat: Siemens-Boss Joe Kaeser will trotz erheblicher Proteste am betriebswirtschaftlich unbedeutenden Engagement für die australische Carmichael-Kohlemine festhalten. Und die Automobilindustrie steht völlig ratlos vor der Herausforderung, ihre Antriebe von Benzin auf Strom - oder noch zukunftsorientierter: auf Wasserstoff - umzustellen. Auf Konsumentenseite sieht es nicht besser aus: 2019 wurden in Deutschland erstmal mehr als eine Million spritschluckender Geländewagen zugelassen. Damit stieg der Marktanteil dieser für den Stadtverkehr völlig ungeeigneten Autos auf knapp ein Drittel. Experten erwarten, dass in fünf Jahren jeder zweite Neuwagen auf deutschen Straßen ein SUV sein wird.

Die Klima-Uhr tickt erbarmungslos

Nein, nur die wenigsten handeln derzeit so, als ob das Haus brennt. Entscheidungen zu einer nennenswerten Einsparung von CO2-Emissionen werden zerredet, diskreditiert, auf die lange Bank geschoben - obwohl die Zeit erbarmungslos abläuft: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, dürfen wir weltweit nur noch knapp acht Jahre lang im bisherigen Umfang CO2 freisetzen. Danach kein Gramm mehr. Und wir? Wir handeln gemäß des berühmten Satzes von Albert Einstein, wonach Wahnsinn darin besteht, alles beim Alten zu belassen, und doch zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Nicht nur von Rechtspopulisten wird der Spieß gerne herumgedreht: Nicht der Klimawandel sei besorgniserregend, sondern die Äußerungen von Greta und ihren Mitstreitern. Die Warnungen seien völlig übertrieben, gar hysterisch. Mehrere Politiker, wie etwa der frühere hamburgische Umweltsenator Fritz Vahrenholt oder der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, nahmen das Wort "Klimahysterie" in den Mund, um die Fridays for Future-Bewegung zu diskreditieren.

Man kann sich natürlich darüber streiten, auf welchem Weg wir die Pariser Klimaziele erreichen wollen. Die Klimaschützer als hysterisch zu diskreditieren, geht aber gar nicht. Darauf hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der Jury, die dieses Unwort 2020 kürte.

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Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus