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Kommentar: NATO wandelt sich radikal

Bernd Riegert2. Dezember 2014

Rückzug aus Afghanistan, neuer Einsatz in Europa: Die NATO wandelt sich, um Russland in Schach zu halten. Glaubhafte Diplomatie muss notfalls wehrhaft sein, meint Bernd Riegert.

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Wegweiser "Nato" und "Osten" (Symbolbild) (Foto: dpa/picture alliance/chromorange)
Bild: picture alliance/chromorange

Das Jahr 2014 brachte für die größte Militärallianz der Welt eine entscheidende Wende. Weg von der "out of area"-NATO mit ihrem teuren und langwierigen Einsatz zur Befriedung Afghanistans wieder zurück zur Verteidigung Europas. Die scharfe Wende vollzieht das Bündnis nicht ganz freiwillig. Russland zwingt es mit seinem Angriff auf die Souveränität der Ukraine dazu.

Die NATO wollte nach dem geplanten Abzug aus Afghanistan eigentlich ganz ruhig neue Aufgaben angehen und auch Geld sparen. Doch daraus wird nichts: In Windeseile müssen jetzt wieder Kapazitäten und Fähigkeiten in Europa aufgebaut werden, die man in den vergangenen zwanzig Jahren nach dem Ende der Sowjetunion ruhigen Gewissens abgebaut hatte. Russland wird als Bedrohung für die östlichen Mitgliedsstaaten der NATO empfunden. Auch wenn ein Einmarsch Russlands in Estland oder Lettland unwahrscheinlich ist, herrscht in Brüssel doch das Gefühl vor, dass Russland unter Präsident Putin kein Partner mehr ist, sondern ein unberechenbares, ja machthungriges Land. Die NATO fühlt sich berufen, Stärke zu zeigen.

Die militärische Präsenz in der Ostsee und im Luftraum zwischen Finnland und Rumänien hat die Allianz bereits verstärkt. Jetzt will sie auch zu Lande aufrüsten. Sie erschafft eine schnelle Eingreiftruppe, die zumindest zu Beginn weder besonders schnell noch besonders stark ist. Es wird einige Zeit dauern, bis genügend Soldaten, rund 4000, bereitstehen, um im Krisenfall ins Baltikum oder nach Polen verlegt zu werden. Die "Speerspitzen"-Truppe soll in ständiger Bereitschaft gehalten werden. Das bedeutet auch für die Bundeswehr zusätzliche personelle Belastung und Kosten. Um Russland glaubhaft mit konventionellen Truppen abschrecken zu können, müssten die NATO-Staaten sich wieder mehr Infanterie und Panzertruppen zulegen. Diese hatten sie in den vergangenen Jahren eingespart. Sie wieder aufzubauen, wird teuer und langwierig.

Der Spitze folgt der ganze Speer

Doch nach der Verlegung der Speerspitze müsste ja nach militärischer Logik auch der ganze Speer, sprich: müssten mehr Truppen, folgen. Sollte die Krise lange andauern, wird Deutschland auch über die Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenken müssen, denn schon heute hat die Bundeswehr Schwierigkeiten, ihren Personalbedarf mit Freiwilligen zu decken. Neben der militärischen Vorbereitung der Abschreckungsstrategie gegenüber Russland müssen die NATO-Staaten weiter auf Diplomatie setzen. Eine Entspannung oder gar eine Lösung des Konflikts mit Russlands Präsident Putin wäre tausendmal besser als das Säbelrasseln, das wir jetzt in der NATO gezwungermaßen erleben müssen.

Deutsche Welle, Bernd Riegert (Foto: DW/P. Henriksen)
DW-Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Noch sind wir von militärischen Stärken wie zu Zeiten des Kalten Krieges weit entfernt, als sich in Mitteleuropa Millionen von Soldaten gegenüberstanden. Die NATO muss aber vorausschauend planen und auf alles vorbereitet sein. Auch darauf, dass Russland dem Schmieden der "Speerspitze" sicher nicht tatenlos zuschauen wird. Mit verstärkten Manövern nahe der NATO-Grenzen, mit weiteren Truppenverlegungen und gezielten Provokationen ist zu rechnen. Steht am Ende ein Rüstungswettlauf zwischen Russland und der NATO? Aufgabe der 28 Mitglieder der NATO wird es im kommenden Jahr sein, ihre Geschlossenheit und ihre Entschlossenheit zu wahren. In den südlichen Mitgliedsstaaten ist das Gefühl der Bedrohung durch die Ukrainekrise nicht sonderlich ausgeprägt. Das NATO-Land Türkei vereinbarte sogar parallel zum NATO-Treffen gute Geschäfte mit Russland.

Zu den Spannungen mit Russland kommt eine weitere Herausforderung an der Südostflanke des Bündnis hinzu: Die Bedrohung durch die Terroristenarmee "Islamischer Staat", die von Syrien aus in den NATO-Staat Türkei einfallen könnte und dabei ist, auch in Libyen einen Brückenkopf einzurichten. Auf diese Herausforderung hat die NATO noch keine Antwort. Da hilft auch keine schnelle Eingreiftruppe. Oder doch? Unter Führung der USA wird ein neues Bündnis gegen den "IS" zusammengestellt. Noch hat die NATO darin keine eigene Rolle. Das könnte sich ändern.