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Kommentar: Notfalls Beitrittsverhandlungen mit Türkei aussetzen

9. November 2006

Kommt es in der Zypernfrage und bei den inneren Reformen in der Türkei nicht bald zu Fortschritten, müssten die EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land auf Eis gelegt werden, meint Bernd Riegert.

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Die EU-Kommission hat sich um eine klare Entscheidung herumgedrückt. Eine Empfehlung, die Verhandlungen mit der Türkei über einen Beitritt zur Union auszusetzen, abzubrechen oder fortzusetzen, fehlt in dem so genannten Fortschrittsbericht. Das Problem müssen jetzt die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen Mitte Dezember lösen. Die knappe Zeitspanne bis dahin sollten die Türkei und Zypern dringend nutzen, den Streit um die Anerkennung des EU-Mitglieds Zypern durch den Kandidaten Türkei beizulegen. Ob dies gelingt, darf bezweifelt werden.

Kompromisse gefragt

Beide Seiten müssen nachgeben, die Türken mehr als die Zyprer. Schließlich hat die Türkei mehrfach zugesagt, durch die Öffnung von Häfen und Flughäfen für zyprische Schiffe und Flugzeuge, das Land wenigstens indirekt zu akzeptieren. Am ungelösten Zypernproblem wäre die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bereits zweimal knapp gescheitert, beim EU-Gipfel im Dezember 2004 und beim Außenminister-Treffen im Oktober 2005. Damals retteten nur faule, teilweise groteske Kompromissformeln die Situation. Jetzt sieht es so aus, als steuere die EU erneut auf eine kunstvoll gedrechselte Formel zu, die das eigentliche Problem, die Wiedervereinigung der geteilten Insel, nicht anpackt. Seitdem der Vereinigungsplan der Vereinten Nationen hauptsächlich an den griechischen Zyprern scheiterte, hat es keinen ernsthaften Versuch mehr gegeben, die schwelende Krise zu lösen.

Glaubwürdigkeit der EU in Gefahr

Die EU muss jetzt standhaft bleiben und auf die Einhaltung von Zusagen pochen. Die Türkei reagiert, das hat die Erfahrung gezeigt, nur in letzter Minute unter großem Druck. Notfalls müssen die Beitrittsverhandlungen tatsächlich ausgesetzt werden, denn sonst würde die Europäische Union ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Ein solcher Schritt wäre zwar ein Rückschlag für die Türkei und auch die EU, die die Türkei ja nach wie vor aufnehmen will, aber er wäre keine Katastrophe. Die Türkei braucht die Europäische Union mehr als die EU die Türkei. Das Land würde nicht gleich in das "islamische Lager" abdriften, wie Beitrittsbefürworter befürchten. Schließlich ist die Türkei durch die NATO an den Westen gebunden und sieht sich selbst als laizistischen Staat.

Ein Aussetzen der Verhandlungen, die ohnehin auf zehn oder mehr Jahre angelegt sind, wäre vielmehr ein heilsamer Schock für die Regierung in Ankara. Mit einer Zurückweisung oder gar einer Beleidigung der Türkei, wie das in einer türkischen Zeitung zu lesen war, hat die Haltung der EU nichts zu tun. Solche nationalistische Rhetorik widerspricht europäischem Geist. Die schleppenden Reformen und bestehenden Defizite in der Türkei sind zwar bedauerlich, sind aber für sich genommen kein Grund für ein Aussetzen der Verhandlungen. Denn die Annäherung an die EU soll ja gerade in der Beitrittsphase zu weiteren Reformen führen.

Munition für Beitrittsgegner

Mit ihrer sturen Haltung macht es die Türkei den Beitrittsgegnern in der EU leicht, sich hinter dem Zypernkonflikt zu verstecken. So können sich viele Mitgliedsstaaten um eine klare Aussage herumdrücken, ob sie die Türkei in der EU wollen oder nicht. Im kommenden Jahr wird die deutsche EU-Ratspräsidentin Angela Merkel das Problem vom Tisch haben. In dieser Frage ist sie jetzt schon eine lahme Ente, denn ihre Koalition aus SPD, CDU und CSU ist in der Beitrittsfrage heillos zerstritten. Eine realistische Chance auf eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche würde es also frühestens im zweiten Halbjahr 2007 geben, wenn Portugal die Präsidentschaft übernimmt und in der Türkei gewählt wurde.

Bernd Riegert, Brüssel

DW-RADIO, 8.11.2006, Fokus Ost-Südost