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Gesellschaft

Postfaktischer Unsinn

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Martin Muno
9. Dezember 2016

Das "Wort des Jahres 2016" lautet "postfaktisch". Das ist weder neu noch originell, legt im Zeitalter der Sozialen Medien den Finger aber in eine offene Wunde, meint Martin Muno.

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Deutschland Postfaktisch ist Wort des Jahres 2016
Bild: picture-alliance/dpa/S. Prautsch

Postfaktisch also. Mit ihrer Wahl ist die Gesellschaft für deutsche Sprache in guter Gesellschaft. Denn schon vor knapp einem Monat wählten die Oxford Dictionaries den entsprechenden englischen Begriff "post-truth " zum internationalen Wort des Jahres. Und sogar die Kanzlerin benutzte diesen Begriff. Im September, unmittelbar nach der Wahl in Berlin, begründete Angela Merkel die Stimmenverluste ihrer CDU und die Gewinne der rechtspopulistischen AfD mit dem Satz "Wir leben in postfaktischen Zeiten." Sie meinte: Die Menschen folgten eher ihren Gefühlen als den Tatsachen. Denn dann hätten sie CDU gewählt und nicht die anderen.

Wer postfaktisch sagt, muss aber  zuerst an Donald Trump denken. Nach Angaben der Faktenchecker-Seite "Politifact"  sind 70 Prozent seiner Sachaussagen falsch oder unsinnig und weitere 15 Prozent nur halb wahr. Dennoch gewann er die Präsidentschaftswahl. Und Trump - ebenso seine wie populistischen Geschwister im Geiste Boris Johnson, Marine Le Pen oder auch Frauke Petry - versteht es, mit solchen Falschaussagen einerseits Menschen zu emotionalisieren, andererseits die beruflichen Faktenchecker, sprich uns Journalisten, vor sich herzutreiben. Das Hase- und Igel-Spiel heißt "too fast to check" - zu schnell um es zu überprüfen. Noch während wir recherchieren, verbreitet Trump per Twitter den nächsten Unsinn an seine 17 Millionen Follower. Zum Vergleich: Die Auflage der "New York Times" beträgt ein Zehntel dieser Zahl.

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DW-Redakteur Martin Muno

Leben in der Echokammer

Wer jetzt allerdings auf die bösen Sozialen Netzwerke schimpft, in denen jeder Schwachkopf unbehelligt den größten Unsinn und die widerlichsten Hasstiraden verbeiten kann, macht es sich zu einfach. Es trifft zwar zu, dass Facebook & Co. den Trend verstärken, dass man nur noch die Stimmen gleichgesinnter Freunde vernimmt. Dass man sich dadurch in einer Echokammer befindet, in denen die eigenen Argumente verstärkt und Gegenargumente ausgeblendet werden. Es wird aber niemand daran gehindert, auch in den Sozialen Medien zu schauen, wie Andersdenkende eine bestimmte Sachlage einschätzen.

Zugegeben: Das macht Arbeit. Oder wie Immanuel Kant schrieb: "Es ist so bequem, unmündig zu sein." Katzenvideos zu betrachten, ist einfacher als sich über die Ursachen der Flüchtlingskrise oder den Klimawandel zu informieren. Vergessen wir aber nicht: Das eigenständige Denken ist nach Kants Auffassung die Grundlage für das, was emphatisch "Aufklärung" genannt wird und die Grundlage demokratischer Gesellschaften ist.

Die Schrift an der Wand lesen

Und damit wären wir bei den traditionellen Medien. Denn deren ureigenste Aufgabe ist es, sachlich richtig über gesellschaftliche Vorgänge zu berichten, sie einzuordnen und damit die Voraussetzung für eine politische Willensbildung zu geben. "Vierte Gewalt" hieß das einmal. Und hier muss man selbstkritisch zugestehen: Auch wir Journalisten sind in Echokammern gefangen. Auch wir müssen, wie Alexander Kluge sagt, wieder lernen, die Schrift an der Wand besser zu lesen. Auch wir schauen gerne auf funkelnde High-Tech-Produkte aus dem Silicon Valley und nur ungern auf die oft unmenschliche Weise, mit denen sie - tausende Kilometer entfernt - produziert werden. Auch wir berichten vielfach neutral darüber, dass beim Unternehmen X oder Y tausende Jobs wegfallen und verfolgen viel zu wenig das Schicksal und die Gefühle derer, die nun ohne Arbeit dastehen.

Eines ist allerdings klar: Das Wort "postfaktisch" ist Unsinn. Es täuscht vor, dass es einst eine Ära des Faktischen gegeben habe, in denen Lüge und Propaganda glasklar von der Wahrheit unterscheidbar waren. Schon seit jeher wurden Fakten verdreht und notfalls offen gelogen, um Interessen durchzusetzen. Von daher ist die Wahl des Wortes 2016 als Appell zu verstehen: Denn jede freiheitliche Gesellschaft basiert auf einem freien Diskurs. Und der basiert auf Rede- und Pressefreiheit. Diese zu verteidigen und verantwortlich zu nutzen ist unser aller Aufgabe - egal ob wir Politiker sind, Journalisten oder einfache Facebook-Nutzer.

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Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus