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Politik

Schluss mit dem Politiker-Bashing!

9. Juni 2019

Deutschlands Politiker sind besser als ihr Ruf. Statt Spott, Häme und Bedrohungen hätten sie auch mal ein Danke verdient. Ein Plädoyer für mehr Wertschätzung und weniger Wut von Astrid Prange de Oliveira.

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Deutschland | Rechte Kundgebung gegen den Migrationspakt in Berlin
Bild: imago/IPON

Sie sind die Prügelknaben der Nation. Sie müssen "liefern". Sie "kriegen auf die Fresse", werden angegriffen, verfolgt, und für einige ist sogar ein Galgen "reserviert".

Deutschland ergeht sich im Politiker-Bashing. Das ist grotesk und gefährlich. Denn die Wut auf Politiker nagt an der Demokratie. Wer will sich noch politisch engagieren, wenn dies mit Beschimpfungen "belohnt" wird und sogar lebensgefährlich werden kann?

Unter Polizeischutz

Auch wenn Dankbarkeit offensichtlich keine politische Kategorie ist, wie die schonungslosen Attacken auf CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und die ehemalige SPD-Chefin Andrea Nahles zeigen: Ich bedanke mich schon jetzt bei dem- oder derjenigen, die als Nachfolger für den SPD-Vorsitz kandidieren.

Denn der SPD-Vorsitz ist kein "Scheiß-Job", wie die Berliner Zeitung "taz" titelte. Im Gegenteil. Es ist ein Job, der dazu beiträgt, dass in Deutschland politische Reformen umgesetzt werden, die das Leben von Millionen Menschen verbessern: Dazu gehören zum Beispiel der Mindestlohn oder die doppelte Staatsangehörigkeit.

Kommentarbild Astrid Prange
DW-Redakteurin Astrid Prange de OliveiraBild: DW/P. Böll

Ich bedanke mich auch bei Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena, und der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, dass sie trotz der lebensgefährlichen Messerattacken auf sie weitermachen. Und bei allen anderen Politikern, die sich fürs Gemeinwohl engagieren und dafür zuweilen sogar Polizeischutz in Anspruch nehmen müssen.

Politische Bibelarbeiten

Und ich hoffe darauf, dass diese Gruppe von Politikern in Deutschland weiterhin in der Mehrheit bleibt. Dass Persönlichkeiten wie der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, oder der ehemalige Außenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel weiterhin auf Kirchentagen die Bibel auslegen, Hilfsorganisationen unterstützen und Populisten die Stirn bieten.

Die Mär vom "Staatsversagen"

Nicht für alle demokratisch gewählten Volksvertreter ist dies selbstverständlich. Wer von "Staatsversagen", "Herrschaft des Unrechts" oder "Unregierbarkeit" schwadroniert, spricht dem deutschen Rechtsstaat verbal seine Legitimation ab. In Deutschland droht weder eine "Herrschaft des Unrechts", wie einst Bundesinnenminister Horst Seehofer suggerierte, noch ist das Land "unregierbar", wie die Zeitschrift Cicero titelte. Es droht auch kein "Staatsversagen", wie Politiker vom linken und rechten Rand regelmäßig auf allen ihnen verfügbaren Kanälen beklagen.

Ganz im Gegenteil: Die rund 80 Millionen Einwohner Deutschlands leben in einem der reichsten, stabilsten und freiesten Länder der Welt. Seit mehr als 70 Jahren herrscht Frieden, die Arbeitslosigkeit ist gering und im Korruptionsranking von Transparency International belegt Deutschland derzeit den elften Platz von insgesamt 180 Ländern.

Demokratischer Akt

Eine Wertschätzung gegenüber Politikern, die zu diesem funktionierenden Gemeinwesen beitragen, wäre deshalb nicht falsch. Mehr noch: Es wäre ein demokratischer Akt, eine wichtige Geste zur Stärkung der Demokratie, zu deren Funktionieren nicht nur Politiker, sondern jeder Bürger beitragen kann.

Natürlich schließt Wertschätzung Kritik und Kontrolle von Politikern nicht aus. Natürlich muss sich auch "Klimakanzlerin" Merkel Kritik an der Aufweichung ihrer Ziele gefallen lassen. Oder an Fehlern in der Flüchtlingspolitik.

Und natürlich kann es nicht schaden, wenn demonstrierende Schüler politische Entscheidungsträger auf ihre Defizite hinweisen und Druck machen. Natürlich sollen Youtuber der Regierungskoalition die Leviten lesen. Doch wenn die Kritik in Wut, Häme und Hass umschlägt, dann wird nichts erreicht.

Wut, Häme, Zynismus

Bei Millionen von Menschen, die in Rumänien, Tschechien, Polen, Ungarn, in Großbritannien, den USA oder in Brasilien auf die Straße gehen, um gegen Korruption und Gewalt zu demonstrieren, löst das Politiker-Bashing in Deutschland Kopfschütteln aus. Viele von ihnen wären froh, wenn sie die selbst ernannten Retter aus der Krise, die ihre Karriere auf den politischen Trümmern aufbauen, die selbst verursacht haben, wieder loswürden.

Schluss also mit der verbalen Apokalypse und den antidemokratischen Entgleisungen! Die Welle von Häme und Wut, die sich über Politiker aller Parteien ergießt, ist gefährlich. Sie führt langfristig zur Demontage der gesamten politischen Klasse. Denn wer heute oben schwimmt, kann morgen von der Welle weggespült werden. Deutschlands Demokratie hat weniger Wut und mehr Wertschätzung verdient.