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Politik

So darf Deutschland nicht diskutieren!

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Gero Schließ
11. August 2019

Ist jemand Rassist, der eine verpflichtende Vorschule für Kinder fordert, die kein Deutsch können? Der Streit um den CDU-Politiker Linnemann ist typisch für die Verrohung im öffentlichen Diskurs, meint Gero Schließ.

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Deutschunterricht für Flüchtlinge
Bild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Worüber hat Deutschland in der vergangenen Woche am heftigsten diskutiert? Über die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens nach der Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA? Über den bedrohlichen Währungskrieg zwischen den Amerikanern und China? Über das kriegerische Schaulaufen zwischen Iran und dem Westen in der Straße von Hormus? Oder noch über den tödlichen Angriff auf einen achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof durch einen aus Eritrea stammenden Mann?

Nichts von alledem! Deutschland diskutiert darüber, unter welchen Voraussetzungen Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen eingeschult werden sollten. Eigentlich kein "Aufreger", möchte man meinen. Doch die Wogen gehen hoch. Im Raum stehen Rassismus-Vorwürfe und die Sozialen Medien sind voll von übelsten Verleumdungen.

Denkverbote verdrängen Diskurs und Debatte

Ein Beispiel dafür, wie überhitzt und verroht hierzulande der öffentliche Umgang geworden ist. Und dass in Deutschland Ausgrenzung und Denkverbote immer häufiger Diskurs und Debatte verdrängen. 

Was ist geschehen? Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im Bundestag, Carsten Linnemann, trat die Diskussion im Interview mit einer deutschen Regionalzeitung mit folgendem Satz los: "Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen." Im äußersten Fall müsse die Einschulung zurückgestellt werden.

"Auf einer Grundschule noch nichts zu suchen" - es mag diese abweisende Wortwahl und der Gestus der Ausgrenzung gewesen sein, von der sich die eigentlich seriöse Deutsche Presse-Agentur (dpa) zu der Überschrift verleiten ließ: "CDU-Politiker: Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können". Auch wenn sich die dpa bald korrigierte (von einem "Verbot" war nie die Rede) - der Shitstorm in den Sozialen Medien war nicht mehr aufzuhalten. Nicht zuletzt wurde Linnemann Rassismus angelastet, was ein ziemlicher Unsinn ist. Wer so urteilt, hat geflissentlich übersehen, dass der CDU-Politiker vorschulische Deutschkurse gefordert hatte, in die der Staat viel Geld investieren müsse.

Die Nerven liegen bloß

Das alles zeigt: Die Nerven liegen bloß bei den Deutschen. Das weiß auch Linnemann. Er hat kurz vor den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern bewusst eine wunde Stelle treffen wollen. Das ist ihm gelungen. Denn alles, was mit der Einwanderung von fast einer Millionen Menschen im Jahr 2015 und ihren Folgen zu tun hat, wühlt die Deutschen bis heute auf - egal, ob es um Arbeitsplätze, Ausbildung oder Kriminalität geht. Und mit seiner Wortwahl hat Linnemann die Grenzen der "political correctness" testen wollen. Denn bei den Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen könnten die Rechtspopulisten von der AfD erheblichen Auftrieb bekommen eventuell sogar stärkste Partei werden. Der Ausflug des eigentlichen Wirtschaftspolitikers Linnemann in die Bildungspolitik wirkt also ganz so, als wolle er mit populistischen Parolen im rechten Wasser fischen.

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Gero Schließ ist Kulturkorrespondent in Berlin

Aber hier geht es nicht nur um eine verfehlte Wahlkampfstrategie, die schon bei der Bundestagswahl 2017 zu den herben Verlusten von CDU und CSU beigetragen hat. An diesem Fall lässt sich vor allem das gefährliche Treiben der Empörungsindustrie studieren, das die Grundfesten unserer Demokratie unterhöhlt. Bei den fast schon vergessenen Ausschreitungen in Chemnitz vor einem Jahr hat sie genauso ihr Unwesen getrieben wie beim grauenhaften Tod des achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof und jetzt beim Schlagabtausch über die Sprachkompetenz von Migranten und Flüchtlingen.

So unterschiedlich diese Anlässe sind, drei Dinge haben sie gemeinsam: In den Sozialen Medien tobt sich scheinbar hemmungslos der rechte Mob aus und bedient Ängste und Vorurteile. Die Vernünftigen und Abwägenden sind vielfach defensiv oder haben sich bereits zurückgezogen. Und ja, es sind auch wir, die Medien, die durch Fehlleistungen (siehe dpa) oder in voller Absicht zur Zuspitzung beitragen. Auf der Strecke bleiben Respekt, Wohlwollen und Gemeinsinn. Hinzu kommt, dass das ständige Beschwören angeblicher Extreme Wörter und Begriffe entwertet. Auch das dauernde Schwingen der Rassismus-Keule macht dieses Instrument auf Dauer stumpf - gerade dann, wenn wirklich ausgemachte Rassisten vom Schlage Donald Trumps auf die Bühne drängen.  

Anerkennen, was ist

Was ist zu tun? Der erste Schritt: Anerkennen, was ist. Die Einwanderung Hunderttausender in kürzester Zeit und eine überforderte Migrationspolitik haben aus Deutschland ein anderes Land gemacht. Die Auswirkungen sind tiefgreifend, auch im politischen Spektrum: Mit der AfD treibt eine skrupellose rechtspopulistische Formation die Traditionsparteien vor sich her. In der linken Mitte schrumpft die einstmals stolze Sozialdemokratie zügig zur Splitterpartei. Und dazwischen eine Kanzlerin auf Abruf mit einer verunsicherten CDU/CSU, die auf Klima- und Migrationsängste noch keine Antwort gefunden hat, aber nicht enden will wie die SPD.

So wie im Parteiensystem alles durcheinander gewirbelt wird, droht auch unser Wertesystem seine Orientierungsbojen zu verlieren. Doch das darf auf keinen Fall passieren! Werte wie Wahrheit, Toleranz und Liberalität gehören zum Kernbestand unserer Demokratie.

Wir Deutsche verteidigen sie am besten, in dem wir den Populismus anderen überlassen und stattdessen immer wieder ruhig und beharrlich die Dinge benennen, wie sie sind oder wie wir sie sehen. Das muss auch möglich sein, wenn es um Grundschüler und das Deutschlernen geht. Kühlen Kopf bewahren und Standfestigkeit zeigen, heißt das Motto der Stunde!