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Keine Alternative

Baha Güngör21. November 2007

Der in der Türkei inhaftierte deutsche Schüler Marco W. muss bis in die Vorweihnachtszeit hinein im Gefängnis ausharren. Diese Entscheidung ist ein Armutszeugnis für die türkische Justiz, meint Bahar Güngör.

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Bild: DW

Im Fall Marco W. hätte Justitia auch ohne Augenbinde keine Chance auf klare Sicht. Die römische Göttin der Gerechtigkeit wäre geblendet von einem sturen und ohne jedes Augenmaß agierenden türkischen Gericht, das den Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) weiterhin völlig missachtet.

Klar ist, dass Marco W. aus Uelzen einen weiteren Monat in Untersuchungshaft in Antalya am Mittelmeer verbringen muss. Doch das Hoffen auf ein Weihnachtswunder geht weiter. Wenn die erhoffte Vernunft statt Paragraphenreiterei Einzug im Gerichtssaal des Justizpalastes von Antalya halten sollte, gäbe es zur Freilassung des deutschen Jugendlichen beim nächsten Haftprüfungstermin am 14. Dezember keine Alternative.

Opfer der britischen Familie

Marco W. sitzt als mutmaßlicher Täter auf der Anklagebank, ist aber längst zum Opfer der Familie einer 13-jährigen Britin geworden, die er sexuell missbraucht haben soll. Die Liste der angeblichen Straftaten, die Marco W. zur Last gelegt werden, reicht von sexuellem Missbrauch einer Minderjährigen bis zur Vergewaltigung. Nur seit seiner Festnahme vor sieben Monaten gibt es keinen Beweis dafür, dass Marco W. sein angebliches "Opfer" sexuell missbraucht oder gar vergewaltigt hat oder dass er das tatsächliche Alter des Mädchens kannte.

Die Paragraphen, die Marco W. zum Verhängnis geworden sind und auf denen die türkischen Richter pochen, sind im Zuge der Anpassungsgesetze an die Rechtsnormen der EU entstanden, um Minderjährige vor sexuellem Missbrauch und der viel zitierten Zwangsverheiratung von Kindern zu beschützen. Deshalb sind diese Paragraphen auch nützlich und sollten nicht verwässert werden.

Keine Alternative zur Entlassung

Wenn es aber nach sieben Monaten nicht gelungen ist, dem Gericht eine juristisch verwertbare, in amtlich beglaubigter Übersetzung vorliegende Aussage der kleinen Britin zu präsentieren, dann kann es zur Entlassung von Marco W. aus der U-Haft keine Alternative geben. Es stimmt zwar: Die langsam mahlenden Mühlen der türkischen Gerichtsbarkeit erlauben Haftprüfungstermine von etwa einmal pro Monat, und die Hauptverhandlung ist damit noch lange nicht eingeleitet worden. Doch mit welchem Recht darf die persönliche Zukunft eines jungen Menschen derart gefährdet und seine psychische und physische Belastbarkeit auf nicht mehr tolerierbare Weise ausgereizt werden?

Die Gewissensbisse des Vorsitzenden Richters der betroffenen Strafkammer müssen heftig gewesen sein, denn der Jurist bat um seine Entbindung von diesem Verfahren, was aber abgelehnt wurde. Den Mut aber, Marco auf freien Fuß zu setzen und die Verhandlung ohne seine weitere Inhaftierung fortzuführen, brachte der Richter nicht auf. Der Grund dafür dürfte unter anderem die Furcht vor einer Schadensersatzklage der britischen Familie im Falle einer möglichen Flucht von Marco W. vor einem Urteilsspruch in der Türkei sein.

Fehler der deutschen Politiker

Das ist die eine Seite. Andererseits haben sich aber auch manche prominente deutsche Politiker im Fall Marco W. nicht mit Ruhm bekleckert. Denn die Entscheidung der deutschen Anwälte, mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen, führte bis in hohe Regierungsämter zu populistischen, aber deplazierten Kommentaren, wonach die U-Haft Marcos ein Beweis für die Ferne der Türkei von den Standards der EU sei.

Dabei wissen selbst die ahnungslosesten Hinterbänkler in Bundes- und Landesparlamenten, dass die Türkei Attacken auf ihr Selbstverständnis als demokratischer Rechtsstaat nicht akzeptiert und dementsprechend hart reagiert. Schließlich war Marco W. nicht das Opfer eines polizeilichen oder juristischen Irrtums, sondern wurde auf Anzeige einer britischen Familie hin in U-Haft genommen, deren Anwälte sich auf EU-konforme neue Strafrechtsparagraphen in der Türkei stützen konnten.