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Was Charlie und Jan gemeinsam haben

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Martin Muno
7. April 2016

Ist das ein Skandal? Eine Staatsaffäre gar? Ungeachtet der heftigen Reaktionen auf die Schmähkritik des Satirikers Jan Böhmermann auf Erdogan rät Martin Muno, den Ball flach zu halten.

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Bildkombo Jan Böhmermann und Recep Tayyip Erdogan (Foto: picture-alliance/dpa/B. Pedersen/R. Ghement)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen/R. Ghement

Ja, Jan Böhmermanns (im Titelbild links) als "Schmähkritik" bezeichnetes Gedicht ist geschmacklos, rassistisch und gemein. Indem der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan (im Titelbild rechts) als stinkender Kretin mit perversen sexuellen Vorlieben beschrieben und auf Größe und Geruch seiner Geschlechtsorgane eingegangen wird, werden so ziemlich alle Ebenen der Beleidigung bedient, die man sich vorstellen kann.

Gleichzeitig ist Böhmermanns Aktion genial: Denn er wies in der Sendung selbst darauf hin, dass so etwas in Deutschland nicht erlaubt sei. Damit verwandelte er seine Tirade auf Erdogan von einer dumpfen Schmähkritik in eine Satire auf eine Schmähkritik.

Dumpf und hegelianisch raffiniert

Indem ich sage, was ich nicht sagen darf, kann ich doch sagen, was ich sagen will – das ist ein brillanter Hegelscher Schachzug. Und gleichzeitig machte Böhmermann deutlich, wie harmlos das Spottlied des NDR auf Erdogan eigentlich war, das doch zu diplomatischen Verwicklungen zwischen der Türkei und Deutschland führte.

Dass der ausstrahlende Sender ZDF das Video aus seiner Mediathek löschte, führte nur dazu, dass sich das Böhmermannsche Spiel fortsetzte. Zwar war das "verbotene" Schmähgedicht nicht mehr auf den ZDF-Webseiten verfügbar, es verbreitete sich aber mit rasender Geschwindigkeit durch die sozialen Medien weiter, und jeder wollte es sehen, solange es noch möglich war. Es ist ein uraltes Spiel: Schon Baudelaires "Blumen des Bösen" bezogen ihren Ruhm vor allem daraus, dass einige Gedichte verboten waren.

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DW-Redakteur Martin Muno

Vorauseilende Entschuldigung

Und auch die Bundeskanzlerin spielte das Spiel mit. Die Türkei musste gar nicht protestieren. Denn bevor der deutsche Botschafter in Ankara abermals einbestellt wurde, griff sie zum Telefon und sagte ihrem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu, dass das Gedicht "bewusst verletzend" gewesen sei und begrüßt das Vorgehen des ZDF.

Was für ein absurder Vorgang: Die Regierungschefin eines demokratischen Landes entschuldigt sich bei der Regierung eines Staates, dem die EU-Kommission große Defizite bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit attestiert, für einen Beitrag, der – wenn auch sehr sophistisch – für ebenjene Meinungsfreiheit wirbt. Es wäre besser gewesen, die Bundesregierung hätte sich unter dem Verweis auf diese Meinungsfreiheit für nicht zuständig erklärt.

Wohlgemerkt: Der Adressat der Schmähkritik ist kein normaler Bürger, sondern der mächtigste Mann der Türkei. Ein Politiker, der das Land selbstherrlich regiert und jeden Protest niederknüppeln lässt - der Gezi-Park lässt grüßen.

Dabei ist das alles nichts Neues: Alle paar Jahre wird ein Satirebeitrag zum Skandal hochgejazzt – so mancher erinnert sich noch an die Kruzifix-Karikaturen der Zeitschrift "Titanic". Diese Konflikte haben etwas Gutes. Denn sie machen uns klar, dass das Grundrecht auf Rede- und Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, dass auch heute noch mit Blut verteidigt wird.

Dass Satire nicht immer bequem ist, wusste schon Kurt Tucholsky. Und auch die Karikaturen von "Charlie Hebdo" gingen oft unter die Gürtellinie. Aber wir können nicht einerseits bequem vom Lehnstuhl aus "Je suis Charlie" rufen und uns andererseits wegducken, wenn es mal unbequem wird.

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Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus