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Kommentar: Black Lives Matter verändert Filmwelt

Scott Roxborough
Scott Roxborough
15. Juni 2020

Wenn Streamingdienste "Vom Winde verweht" aus ihrem Programm streichen, ist das keine Zensur, meint DW-Autor Scott Roxborough. Vielmehr öffne dies eine längst fällige Debatte.

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Szene aus "Vom Winde verweht": Hattie McDaniel im Hausmädchen-Kostüm zieht Vivien Leigh das Mieder stramm
Vivien Leigh und Hattie McDaniel in "Vom Winde verweht"Bild: Imago Images/Mary Evans Archive

Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor langer Zeit lebten an einem wunderbaren Ort Menschen in reinster Harmonie. Die Weißen, denen die Ländereien gehörten, waren sanftmütig und freundlich. Sie kümmerten sich liebevoll um die Schwarzen, die zwar die ganze Arbeit machten, aber eigentlich keinen Grund hatten, sich zu beschweren.

Doch dann brach eine wilde Armee aus dem Norden über den Ort herein, brannte die Häuser der Weißen nieder, hetzte die Schwarzen auf und veranlasste sie, sich gegen die weißen Herren zu erheben und sie zu töten. Es herrschten Chaos und Zerstörung. Fast alles war verloren. Doch schließlich zogen die gewalttätigen Unruhestifter wieder ab und zurück blieben die gutmütigen weißen Ländereibesitzer in der Hoffnung, ihren Lebensstil eines Tages wieder herstellen zu können.

Kommt Ihnen die Geschichte bekannt vor? Es ist der Plot des Filmklassikers "Vom Winde verweht" (Artikelbild). Der Film von 1939 war vergangene Woche in den Nachrichten, weil der Kino- und TV-Konzern Warner Bros., der die Rechte an dem Klassiker hat, ihn aus seinem Streamingdienst HBO Max strich - mit der Begründung, der Film würde ethnische und rassistische Vorurteile bedienen und die Sklaverei verherrlichen.

Umgestürzte Statue mit zerstörtem Kopf
Statuen wie diese des Konföderierten-Präsidenten Jefferson Davis werden umgestürztBild: Getty Images/AFP/P. Michels-Boyce

Blackfacing und N-Wort: Ist das lustig?

Ausgelöst hatten diese Entscheidung sicherlich die weltweiten Black-Lives-Matter-Proteste. Diese waren die Reaktion auf die Tötung George Floyds, eines unbewaffneten schwarzen Mannes, durch einen weißen Polizisten. Während dieser Proteste wurden bereits Statuen und Denkmäler vermeintlicher Helden der Konföderation, also jener Weißen aus dem Süden, die ihre Lebensweise wie in "Vom Winde verweht" verteidigten, zerstört und demontiert.

Nun hat die Protestbewegung ihr Augenmerk auf die Denkmäler der Film- und Fernsehwelt gerichtet. So nahmen auch Netflix und die BBC die Sketch-Comedyshow "Little Britain" aus dem Programm. Grund dafür sind die dort enthaltenen Blackface-Szenen, in denen die weißen Hauptdarsteller David Walliams und Matt Lucas mit schwarzem Make-up dunkelhäutige Charaktere mimen.

"Blackfacing", ein mit Kohle oder Schuhcreme schwarz gemaltes Gesicht, dient seit mehr als einem Jahrhundert dazu, schwarze Menschen zu karikieren und herabzuwürdigen. Daher entfernte Netflix auch weitere Comedyshows wie "The League of Gentlemen" und "The Mighty Boosh". In den britischen Sketchen treten ebenfalls Schauspieler mit schwarzem Make-up auf.

Zensur oder Selbstzensur?

Im Zusammenhang mit der Rassismus-Debatte hat auch der britische Streamingdienst UKTV, eine BBC-Onlineplattform, eine der populärsten Folgen der Kultserie "Fawlty Towers" aus dem Netz genommen. Anlass sind nicht Fawltys Stechschritt-Einlagen vor deutschen Hotelgästen und der ständigen Mahnung ans Personal, bloß den Zweiten Weltkrieg nicht zu erwähnen, sondern die Beleidigungen des westindischen Kricket-Teams durch den Hotel-Dauergast Major Gowen - unter steter Wiederholung des N-Worts.

Die Entscheidungen diverser Streamingdienste haben eine Debatte darüber ausgelöst, welche Filme und TV-Sendungen eine Grenze hinsichtlich rassistischer Äußerungen wirklich überschreiten und ob deren Entfernung aus dem Netz eine Zensur darstelle.

Um es klar zu sagen: Hierbei handelt es sich keinesfalls um Zensur. "Vom Winde verweht" wird bald wieder auf HBO Max zu sehen sein - dann mit einer Einführung durch einen Filmexperten, der den Film in seinen "multiplen historischen Kontext" einordnet. UKTV plant ebenfalls, die umstrittene "Fawlty Towers"-Folge mit einer Zuschauer-Warnung über "anstößigen Inhalt und Sprache" wieder online zu stellen.

Außerdem stehen "Little Britain" und "The League of Gentlemen" bei anderen Streamingdiensten weiterhin zur Verfügung - übrigens auch "Vom Winde verweht". Der Klassiker ist nun Verkaufsschlager bei Amazon. Wenn man also einfach nur den Anbieter wechseln muss, um eine gewünschte Serie oder Film zu sehen, kann man wohl kaum von einer Orwell'schen Gedankenkontrolle sprechen.

Längst fällige Debatte

Eine etwas kniffligere Frage ist, wo denn nun die Grenze zu ziehen ist. Die gesellschaftlichen Normen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten rasch verändert. Zu Recht verzichten wir heutzutage auf stereotypische Darstellungen von Randgruppen, die früher als akzeptabel oder gar alltäglich galten - egal, ob im Hinblick auf sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht.

Scott Roxborough lächelt in die Kamera
DW-Filmexperte Scott RoxboroughBild: Privat

Doch wenn derzeit die vermeintlich glücklichen Sklaven und ritterlichen Südstaatler in "Vom Winde verweht" zur Diskussion stehen - wie ist es dann eigentlich mit dem schwarz angemalten Fred Astaire in "Swing Time" oder der Darstellung der amerikanischen Ureinwohner in "Der Schwarze Falke" (eigentlich betrifft dies jeden "klassischen" Western) umzugehen?

Disney löst dieses Problem für seinen neu gestarteten Streamingdienst Disney+, indem einige ältere Filme mit einer allgemeinen Warnung versehen werden: "Diese Sendung wird in ihrer ursprünglichen Form gezeigt und könnte überholte kulturelle Darstellungen enthalten." Damit wird eine Debatte vermieden, anstatt diese in den Mittelpunkt zu stellen. So wurde der problematischste Film in Disneys Katalog, das animierte Musical "Onkel Remus' Wunderland" von 1946, das das Leben auf einer Sklavenplantage als zu idyllisch darstellt, einfach kommentarlos gestrichen.

Warner Bros. wird mit seinen Warnhinweisen konkreter: Das Angebot könnte "möglicherweise ethnische und rassistische Vorurteile, die in der amerikanischen Gesellschaft alltäglich waren", darstellen. Und weiter heißt es, dass sie "falsch waren und heute falsch sind." Dennoch bleibt ein Beigeschmack von Augenwischerei. Der Warnhinweis unterscheidet nicht zwischen Filmen und TV-Serien, die rassistische Stereotypen verstärken, und solchen, die versuchen, diese zu entlarven.

John Cleese, Darsteller und Drehbuchautor von "Fawlty Towers", konnte jüngst überzeugend darstellen, dass die rassistischen Tiraden von Major Gowens dazu gedacht sind, verspottet und nicht gefeiert zu werden. Spike Lees prophetisches Drama "Do The Right Thing" von 1989 über Rassismus und Polizeigewalt strotzt nur so vor rassistischen Beleidigungen - und doch würde kein intelligenter Zuschauer die eigentliche progressive Erzählabsicht des Regisseurs in Frage stellen.

Szene aus "Fawlty Towers": John Cleese als Basil Fawlty trägt Kellner Manuel
"Fawlty Towers"-Erfinder John Cleese, hier mit Andrew Sachs als ManuelBild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library

Wer erzählt die Geschichten?

Im Kern dieser Debatte geht es darum, welche Auswirkungen die Geschichten, die Narrative, die wir erzählen, auf die Realität haben. "Vom Winde verweht" ist eben nicht nur eine erfundene Geschichte über den Bürgerkrieg. Der Film über die glorreiche Konföderation und die angeblichen Tugenden der Südstaaten haben die Sicht der Amerikaner auf ihre eigene Geschichte geformt und die Vorstellungen einer weißen Vorherrschaft verstärkt. "Vom Winde verweht" war und ist äußerst populär und gehört zu den kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten.

Aus gleichen Gründen wurden auch zwei weitere, äußerst erfolgreiche Shows der Popkultur, die US-Reality-Serien "Cops" und "Live P.D. ", abgesetzt. Die Serien zeigten Live-Einsätze der Polizei mit Verfolgungsjagden, Verhaftungen und gewalttätigen Festnahmen von größtenteils nicht-weißen Verdächtigen. Kritiker wie die Bürgerrechtsgruppe "Color of Change" argumentieren, sie würden "eine bedeutende Rolle bei der Förderung verzerrter Darstellungen von Verbrechen, Gerechtigkeit, Rasse und Geschlecht innerhalb der Kultur spielen." Wenn schwarze Männer in Film und Fernsehen ständig als gefährliche, gewalttätige Kriminelle dargestellt werden, ist es dann überraschend, dass US-Polizisten echte schwarze Männer wie gefährliche Gewaltverbrecher behandeln?

In der Debatte um "Vom Winde verweht" geht es nicht um Zensur. Es geht um die Geschichten, die wir erzählen, und darum, wer sie erzählen darf. Die alten Erzählungen aber sollten nicht in einem Tresor weggeschlossen und vergessen werden. Wir brauchen sie, damit wir verstehen, wie wir hierher gekommen sind. Denn wenn wir die Dinge in Zukunft ändern wollen, müssen wir neue Geschichten und Formen finden, die wir erzählen können.