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Politik

Willkommenskultur adé? Von wegen!

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Gero Schließ
21. Juli 2018

Angst, Aggression und Abschottung: Die Diskussion um Flucht und Migration hat sich radikalisiert, meint Gero Schließ. Er fordert die Rückbesinnung auf die deutsche Willkommenskultur.

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Deutschland Demonstration für Flüchtlinge der Bewegung "Seebrücke" in Berlin
Menschen in ganz Deutschland demonstrieren für die Wiederaufnahme der Seenotrettung im MittelmeerBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Eine deutsche Wochenzeitung diskutiert mit sich und den Lesern, ob man Flüchtlinge auf dem Mittelmeer retten solle. Der Bundesinnenminister witzelt über die Abschiebung von 69 verzweifelten Menschen an seinem 69. Geburtstag. Eine Langzeitstudie der Technischen Universität Berlin dokumentiert eine drastische Zunahme antisemitischer Schmähungen im Netz. Und im vergangenen Jahr gab es mehr als 2000 gewalttätige Übergriffe auf Ausländer. Diese Reihe könnte man fortsetzen, bis hin zu den anschwellenden xenophoben User-Kommentaren im Netz, die wohl auch auf diesen Text folgen werden.

Das tut nur noch weh. Deutschland außer Rand und Band, so scheint es: Verrohung im Denken, in der Sprache und im Handeln. Sind das wirklich noch wir selber, wir Deutsche? Ist dies das Land, in dem wir leben wollen?

2015 wurde angepackt, nicht diskutiert

Es gab eine Zeit, da war ich besonders stolz auf unser Land. Das war die hohe Zeit der Willkommenskultur - ein Wort, das man sich kaum noch traut, in den Mund zu nehmen. Denken wir zurück an das Jahr 2015, als wir in Deutschland fast eine Millionen Flüchtlinge aufnahmen, die in einer aussichtslosen Situation waren. Damals haben wir nicht diskutiert, ob wir diese förmlich in ihrer Not Ertrinkenden aufnehmen sollten oder nicht. Wir haben es einfach getan. Alle haben angepackt, ermutigt von einer beherzt führenden Kanzlerin. Jeder zweite Deutsche engagierte sich damals gemäß einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Das war mein ganz persönliches Deutschlandmärchen. "Auf die große Hilfsbereitschaft der Deutschen in der Flüchtlingskrise werden noch unsere Kinder stolz sein", prophezeite Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der nicht gerade für Gefühlsduselei bekannt ist. Wenn er da mal recht behält. 

Ja es stimmt und ist endlos oft gesagt worden: Angela Merkel sind grobe Fehler unterlaufen. Auch ich fühle mich - um nur eine Spätfolge dieser Versäumnisse zu benennen - heute deutlich unsicherer in einem Land, in dem der Verbleib von Tausenden von Flüchtlingen ungeklärt bleibt. Aber Deutschland steht noch und wird beneidet von vielen Menschen in Europa und der Welt. Und jawohl, wir haben viel geschafft inzwischen, um ein heftig kritisiertes Wort der Kanzlerin aufzugreifen.

Heute: Angst, Aggression und Abschottung

Dröhnende Kritik an Merkels Migrationspolitik gab es von Anfang an. Doch seit wenigen Wochen hat sich der Wind noch einmal gedreht, ist eisiger und unbarmherziger geworden. Ein Dreiklang aus Angst, Aggression und Abschottung beherrscht jetzt den Diskurs. Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe: Zum einen haben es die Rechtspopulisten von der AfD geschafft, die Diskussion zu radikalisieren. Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder laufen nun hinter ihnen her und geben damit dem Rechtsruck in der Gesellschaft weiteren Schub.

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DW-Korrespondent Gero Schließ

Und dann kam vor knapp einem Monat der verheerende Paradigmenwechsel in der EU-Flüchtlingspolitik: Unter tätiger Mithilfe der innenpolitisch angeschlagenen Bundeskanzlerin beschloss der sogenannte "Asylgipfel" vom 24. Juni, Europa im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Festung auszubauen. Fortan sollen uns sogenannte "Asylzentren" am Rande oder außerhalb Europas sowie ein ganzes Bündel weiterer verschärfender Maßnahmen die Hilfesuchenden vom Leib halten. Humanität und die Sorge um Menschenleben und menschenwürdiges Leben? Das war gestern. Und heute? Fest steht: Das ist eine Politik, die Europa und seine vielbeschworenen Werte korrumpiert und den politischen Populismus weiter anheizt.

Gebraucht wird ein Masterplan für glaubwürdige Politik

An diesem Punkt sind wir nun angelangt: kurzatmig und überhitzt und kaum in der Lage, uns den wirklich wichtigen politischen Projekten zur Steuerung der Migration zuzuwenden. Die Große Koalition hat zwar die Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes beschlossen. Doch konkret getan hat sie bisher - nichts. Auch die Fluchtursachen sollen bekämpft werden, haben sich die Koalitionäre in Berlin gegenseitig hoch und heilig versprochen. Doch im nächsten Etat von Entwicklungshilfeminister Gerd Müller soll genau an dieser Stelle gespart werden.

Achtung! Soviel Ignoranz entmutigt selbst die Gutwilligsten. Angela Merkel und die Koalition brauchen dringend einen Masterplan für glaubwürdige Politik. Und ein Blick in das Grundgesetz und seinen Grundwertekatalog könnte auch nicht schaden. Die Würde des einzelnen Menschen steht da ganz oben - egal ob er Deutscher, Ausländer, Asylsuchender oder Migrant ist. Das heißt nicht, dass wir künftig Heimat für alle Notleidenden und Beladenen dieser Welt werden können und wollen. Doch lassen wir uns das Klima der Angst und der Abschottung nicht aufzwingen. Wir alle sollten uns nicht vor den Hetztiraden der Populisten wegducken, sondern für unsere Werte kämpfen.

Dazu gehört auch: Stehen wir auf und sein wir stolz auf unsere Willkommenskultur. Es wird Zeit, sich wieder stärker von ihr leiten zu lassen!

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