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Preis für Pussy Riot?

Jennifer Stange26. Oktober 2012

Das Punk-Gebet von Pussy Riot in Moskau: Die einen halten das für mutigen Protest, die anderen für Blasphemie. In Deutschland streiten jetzt Theologen und Politiker, ob die Band einen renommierten Preis erhalten soll.

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Der umstrittene Auftritt der drei Musikerinnen der russischen Punk-Band Pussy Riot in einer russischen Kirche (Foto: ITAR-TASS)
Bild: picture-alliance/dpa

Die hitzige Debatte hat ihren Ursprung in Wittenberg, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, in der Reformator Martin Luther 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche nagelte. Der Mönch kritisierte damit die Traditionen der katholischen Kirche. In Rom wurde er dafür der Ketzerei angeklagt, dennoch hielt er an seiner Überzeugung fest und wurde zum Begründer der Evangelisch-Lutherischen Kirche. An ihn erinnert Wittenberg mit dem Lutherpreis "Das unerschrockene Wort". Nun hat der Stadtrat die russische Punk-Band Pussy Riot für den Preis vorschlagen. Evangelische Theologen reagieren darauf mit Entsetzen.

Den Anfang machte ausgerechnet Friedrich Schorlemmer. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Theologe aus Wittenberg soll die Aktion von Pussy Riot als "Gotteslästerung" bezeichnet haben. Seinerzeit hatte die Evangelische Kirche sich auch für die Oppositionsbewegung in der DDR geöffnet. Heute schreibt Schorlemmer in einem offenen Brief, die Musikerinnen hätten sich für ihren "schändlichen Auftritt" den falschen Ort, die falsche Form und die falsche Art ausgesucht und damit "in Kauf genommen, Gläubige zu beschädigen".

Kritiker verurteilen "Pöbelei"

Auch Probst Siegfried Kasparick sieht religiöse Gefühle verletzt und spricht sich gegen die Wittenberger Nominierung aus. Kasparick ist Mitglied der Dialogkommission der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mit dem Moskauer Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche. "Das ist, wie wenn Jugendliche in eine Synagoge eindringen, den Rabbiner beleidigen und für einen Preis vorgeschlagen werden", erklärte er der Mitteldeutschen Zeitung.

Lutherstatue vor Rathaus, Wittenberg (Foto: DW)
Luther-Denkmal in WittenbergBild: DW/J. Stange

Der Vergleich mit einem antisemitischen Übergriff hinkt sicherlich. Trotzdem hat die Kritik der moralischen Schwergewichte ihre Wirkung nicht verfehlt. Am 10. November wird die Jury entscheiden, wer den mit 10.000 Euro dotierten Lutherpreis bekommt. Bis dahin wollen Mitglieder der CDU-Fraktion und der Bürger-Allianz im Wittenberger Stadtrat alles versuchen, um die Nominierung der feministischen Punkrock-Band wieder rückgängig zu machen, erklärt der CDU-Abgeordnete Frank Scheurell. Die Performance sei Pöbelei: "Für diese Pöbelei gibt es auch in Deutschland gerechte Strafen, und das ist diesen Damen dort zuteilgeworden."

Ein Moskauer Gericht hatte die Mitglieder von Pussy Riot wegen Rowdytums aus religiösem Hass verurteilt. Die Verteidigung hatte argumentiert, die russisch-orthodoxe Kirche habe die Präsidentschaftskandidatur von Wladimir Putin unterstützt, und deshalb habe die Band ihren politischen Protest in der größten russisch-orthodoxen Kathedrale in Moskau inszeniert. Das Gericht sah das anders.

Vorbild Luther

Doch der Preis "Das unerschrockene Wort" will ja nicht brave Bürger auszeichnen. Die 16 deutschen Lutherstädte - die Orte, in denen der Reformator gelebt oder gewirkt hat - ehren alle zwei Jahre Menschen, die sich mutig gegen politische und gesellschaftliche Missstände aussprechen und Zivilcourage beweisen. "Genau wie Luther seinerzeit" - so heißt es in der Ausschreibung. Es ist also nicht die Kirche, die den Lutherpreis verleiht. Dennoch kreist die aktuelle Diskussion um religiöse Befindlichkeiten.

Der evangelische Theologe und ehemalige Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer (Foto: DW)
Der evangelische Theologe Friedrich SchorlemmerBild: picture-alliance/dpa

"Leider wird auch im Westen die Gotteslästerung als Delikt schon wieder ein Thema, ich kann es nicht glauben! Ich fasse es nicht!", schrieb die Lyrikerin und Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek kurz nach der Verurteilung von Pussy Riot. Schließlich sind auch kritische bis diffamierende Äußerungen gegenüber Religionen in Deutschland, wie in den meisten europäischen Ländern, durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt.

Darauf besteht auch Manuel Vogel, Theologieprofessor in Jena. Er kritisiert, dass die Frage, "was bürgerlich schicklich und ästhetisch akzeptabel ist", gleichgesetzt werde mit der Frage, was religiös erlaubt sei. "Gott ist Dreck!" sollen die Musikerinnen von Pussy Riot während ihres 45 Sekunden langen Auftritts geschrien haben. Auch Martin Luther habe eine derbe Sprache gepflegt, betont Vogel. Und der Vorwurf der Gotteslästerung sei ein "Totschlagargument": "Religiöse Gefühle sind nicht per se unverletzbar."

Hitzige Debatte

Vogel hat zusammen mit anderen Christen und Unterstützern aus Deutschland, Frankreich und Polen einen offenen Brief verfasst, um die Mitglieder von Pussy Riot zu verteidigen. Dort heißt es: "Schorlemmer sagt, sie haben das Heiligste verletzt. Aber sie haben sich für das Heiligste engagiert: für die Mitmenschen, für Menschenrechte, Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie." Selbst Jesus habe im Jerusalemer Tempel randaliert, um gegen die Kommerzialisierung des Gottesdienstes und der Frömmigkeit zu protestieren, fügt Vogel hinzu.

Heiner Geißler, Katholik und ehemaliger Generalsekretär der CDU, teilt diese Perspektive und glaubt sogar: "Jesus wäre an der Seite der Mädchen gewesen." Und Werner Schulz, Vizepräsident des parlamentarischen Kooperationsausschusses EU-Russland, hat darauf hingewiesen, dass Pussy Riot bereits von Amnesty International und Yoko Ono den LennonOno Friedenspreis erhalten hat.

Die Auszeichnung "Das unerschrockene Wort" wird im April 2013 in Luthers Geburtsstadt Eisleben verliehen.