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Lehren aus der Wursthysterie

Brigitte Osterath3. November 2015

Die Warnung der WHO, dass Fleischprodukte krebserregend seien, hat für Wirbel gesorgt - und für Gegenreaktionen. Warum ist etwas, dass Forscher schon seit langem wissen, für Bürger so schwer hinzunehmen?

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Wursttheke Foto: anweber - Fotolia
Bild: anweber - Fotolia

Empörung in den sozialen Medien, reißerische Schlagzeilen in der Presse: Die breite Masse kann offensichtlich nur schwer akzeptieren, was die Weltgesundheitsorganisation da verkündet hat. Aber das ändert nichts an den Fakten: Würstchen, Speck und andere Fleischprodukte sind krebserregend.

Die Internationale Agentur für Krebsforschung IARC in Lyon, Teil der Weltgesundheitsorganisation, hat alle dazu veröffentlichten Studien und Daten analysiert und ist zum Schluss gekommen, dass Fleischprodukte "kanzerogen" sind und "Darmkrebs verursachen". Das trifft "vermutlich" auch auf rotes Fleisch im allgemeinen zu, also auf das Rumpsteak und das Roastbeef - hier allerdings war die Datenlage weniger sicher, daher ist die IARC hier noch vorsichtig.

"Wissenschaft ist emotionslos"

In den Tagen, die der Nachricht der WHO folgte, konterten viele Lokalzeitungen mit Gegenberichten. Da wurden Metzger zitiert, die bekannt gaben, dass ihr Fleisch von Biokühen komme und daher sehr gesund sei. Die WHO-Experten wurden als Gesundheitsfanatiker abgestempelt. Und die Geschichte machte die Runde, dass der Mensch sich nur deshalb so weit entwickeln konnte, weil er im Gegensatz zu vielen Affenarten Fleisch isst - was durchaus stimmt, wie Evolutionsbiologen bestätigen. Aber auch wenn Fleisch in der Geschichte der Menschheitsentwicklung wichtig war, kann es krebserregend sein. Denn früher wurden Menschen erst gar nicht so alt, dass Krebs eine Rolle spielte. Das ist erst heutzutage ein Thema.

Für Epidemiologen wie Rudolf Kaaks vom Deutschen Krebsforschungszentrum ist die Nachricht der WHO nichts Neues: "Es ist seit längerer Zeit bekannt, dass diejenigen, die mehr rotes Fleisch und Fleischprodukte essen, ein höheres Risiko haben, Krebs zu entwickeln", sagt er der DW.

Elio Riboli, Direktor der Fakultät für öffentliche Gesundheit am Imperial College London, macht klar, dass es der IARC nicht darum gehe, bestimmte Lebensmittel zu verdammen: "Wissenschaft ist emotionslos", betont er im DW-Interview. Wenn die IARC sage, dass Fleisch krebserregend sei, dann einfach deshalb, weil die wissenschaftlichen Daten das nun mal hergäben. "Das Drama", sagt er, "ist, dass man als Wissenschaftler etwas als krebserregend deklariert, das ein Teil unser aller Leben ist."

Die ultimative Antwort

Die Internationale Agentur für Krebsforschung veröffentlicht schon seit 1973 Bewertungen zu Krebsrisiken - sogenannte Monographien - die beispielsweise eine Substanz, ein Lebenstil oder ein industrieller Prozess mit sich bringen.

Wissenschaftler aus der ganzen Welt kommen dafür zusammen, um die wissenschaftliche Literatur zu durchforsten und zu analysieren. Schließlich treffen sie eine Entscheidung: Unterstützen die gegenwärtig vorhandenden Daten die Vermutung, dass eine Substanz oder ein Verhalten Krebs auslöst oder tun sie das nicht?

"Ich habe in vielen Komitees weltweit gesessen und arbeite seit 35 Jahren in der Krebsforschung", erzählt Neil Pearce, Professor für Epidemiologie und Biostatistik an der Londoner Hochschule für Hygiene und Tropenmedizin. "Wenn man die ultimative Antwort auf eine Frage wissen will, dann geht man zum Monographien-Programm der IARC."

Für Pearce ist die Kritik, die jetzt an der Bewertung der IARC geübt wird, nichts Neues: "So etwas passiert immer, wenn die IARC eine Monographie herausgibt - es war auch so beim Thema Rauchen, bei Asbest und bei vielen anderen Dingen."

Raucher Foto: CTK Photo/Rene Fluger
Rauchen ist und bleibt Krebsrisikofaktor Nummer Eins.Bild: picture-alliance/dpa/R. Fluger

Die entscheidende Frage

Ja, Fleischprodukte und vermutlich auch rotes Fleisch selbst sind krebserregend. Eines aber hat die WHO in ihrer Pressemitteilung offensichtlich nicht allgemeinverständlich genug dargestellt: Wie groß ist die Gefahr? Viele Zeitungen sind der Ansicht: so gefährlich wie Rauchen. Immerhin sind Rauchen und Fleischprodukte von der IARC beide in die Kategorie 1 eingestuft worden.

"Jede 50-Gramm-Portion Fleischprodukte, die man täglich isst, steigert das Darmkrebsrisiko um 18 Prozent", schreibt die IARC in ihrer Pressemitteilung. Nicht jeder versteht vermutlich, was das bedeutet. Daher haben der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und der Essener Wirtschaftsforscher Thomas Bauer die WHO-Meldung als "Unstatistik des Monats" ausgezeichnet. "Bei dieser Angabe handelt es sich um ein relatives Risiko", schreiben sie. "18 Prozent mehr bedeutet, dass sich das absolute Risiko von etwa fünf auf sechs Prozent erhöht. Das hört sich schon etwas weniger dramatisch an."

Erst in einem begleitenden Frage-und-Antwort-Papier - das vermutlich die meisten gar nicht gelesen haben - erläutert die IARC ihre Pressemitteilung folgendermaßen: "Etwa 34.000 Krebstote pro Jahr sind einer Ernährung mit Fleischprodukten zuzuschreiben." Im Ganzen also nicht so viele, verglichen mit einer Million oder mehr Krebstoten aufgrund von Tabakkonsum. "Je mehr Fleischprodukte man isst, desto größer ist das Krebsrisiko", sagt Kurt Straif, der das Monographien-Programm bei der IARC leitet, im DW-Interview. "Aber nichtsdestotrotz ist das Risiko im Vergleich zu anderen Risikofaktoren relativ gering."

Elio Riboli unterfüttert das mit Zahlen. Das Krebsrisiko erhöht sich durch Fleischprodukte um 18 Prozent - "das Risiko, Lungenkrebs zu bekommen, wenn man jahrelang eine Packung Zigaretten am Tag raucht, ist um 4000 Prozent höher." Mit anderen Worten: Raucher sollten dringendere Sorgen haben als ihre Salami zum Frühstück.

Dass die IARC Rauchen und Wurst in die gleiche Kategorie eingestuft hat, bedeutet nicht, dass sie gleich gefährlich sind. Es heißt nur, dass in beiden Fällen die Datenlage unumstößlich ist: Die wissenschaftlichen Studien lassen nicht daran zweifeln, dass sowohl Tabak als auch Fleischprodukte krebserregend sind. Rotes Fleisch hingegen landete in der Kategorie 2A - hier ist sich die IARC noch nicht hundertprozentig sicher.

Dürfen wir noch Wurst essen?

Alle befragten Gesundheitsexperten - Rudolf Kaaks, Neil Pearce und Elio Riboli - geben zu, auch weiterhin Speck, Wurst und andere Fleischprodukte zu essen. "Mein Großvater kam aus der Gegend um Parma in Italien", erzählt Riboli schmunzelnd, "er war Bauer und hat Schinken hergestellt. Von daher kann ich nicht komplett auf Schinken verzichten."

Aber - auch da sind sich alle einig - es ist möglicherweise keine gute Idee, diese Fleischprodukte jeden Tag in großen Mengen zu essen. Eine ausgewogene Ernährung ist nach wie vor das Gesündeste. Und das ist die Kernnachricht, die uns die Weltgesundheitsorganisation mitteilen wollte.