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Politik

Kriegsmüdigkeit: Russland und die Ukraine

Emily Sherwin
12. Dezember 2021

Russlands Truppen an der Grenze zur Ukraine sind nicht nur eine Botschaft an Kiew und die NATO. Putin will auch die eigene Bevölkerung beeindrucken. Aber er könnte auf taube Ohren stoßen. Aus Moskau Emily Sherwin.

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Lage in der Ukraine Soldat
Ein ukrainischer Soldat steht unter einem Tarnnetz in einem Graben an der Trennlinie zu prorussischen RebellenBild: Andriy Dubchak/AP/dpa/picture alliance

Die Metrostation Kiewskaja in Moskau ist mit aufwendigen Wandgemälden dekoriert. Sie zeigen, wie die Ukrainer der Sowjetunion beitraten - ein Fest der Einheit. Heutzutage aber sind Moskau und Kiew gespaltener denn je.

Jüngst hatten westliche Geheimdienste gewarnt, dass Russland mindestens 70.000 Soldaten nahe der Grenze zur Ukraine stationiert habe und dass der russische Präsident Wladimir Putin planen könnte, im kommenden Jahr ins Nachbarland einzumarschieren.

Russland Moskau | Kiewer Bahnhof
Gemaltes Idyll in der Metrostation Kiewskaja: Ukrainer und Russen tanzen gemeinsamBild: Natalia Kolesnikova/AFP/Getty Images

Vor dem U-Bahnhof Kiewskaja stehen Pendler und Reisende, die Luft schnappen oder eine Zigarette rauchen. Für die meisten von ihnen sind die wachsenden Spannungen an der Grenze sehr weit weg.

"Wir Russen wollen keinen Krieg. Niemand will das. Die Ukrainer sind das gleiche Volk wie wir, ein slawisches Volk, unsere Freunde", sagt eine junge Frau zur DW, während sie in der Kälte ihren Schal enger um den Kopf zieht. "Aber die Politiker da oben entscheiden ja alles - ohne uns."

2014 hat Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. Moskau unterstützt auch die Separatisten, die in der Ostukraine kämpfen, auch wenn russische Regierungsvertreter eine direkte Beteiligung dementieren.

Russland Moskau | Kiewer Bahnhof
Kein Idyll zwischen Russland und der Ukraine: Passanten am U-Bahnhof KiewskajaBild: Emily Sherwin/DW

"In der Sowjetunion haben wir alle prima zusammengelebt", betont ein älterer Mann mit einer Pelzmütze und fügt hinzu, dass er belarussische und polnische Wurzeln habe. "Aber dann ist alles zerfallen."

Eine komplizierte gemeinsame Geschichte

Die Vorstellung, dass Ukrainer und Russen eine "Brudernation" bilden, ist in Russland weit verbreitet. Das lädt den anhaltenden Konflikt in der Ostukraine emotional auf und unterscheidet ihn von anderen Kriegen zwischen Bevölkerungsgruppen postsowjetischer Staaten, wie beispielsweise die jüngsten Kämpfe in Berg-Karabach.

Heute leben mindestens zwei Millionen Ukrainer in Russland und es gibt hunderte familiärer Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Viele Russen betrachten Kiew als die Geburtsstätte der russischen Nation, denn die heutige ukrainische Hauptstadt war das Zentrum der Kiewer Rus, der mittelalterlichen Föderation slawischer Völker.

Krim Sewastopol Präsident Putin beim Tag der Einheit
Machtdemonstration: Präsident Wladimir Putin in Sewastopol auf der Krim am Tag der Einheit Anfang November Bild: Mikhail Metzel/AP/picture alliance

Russland Präsident Wladimir Putin behauptete in einem Artikel im Juli 2021 sogar, Russen und Ukrainer seien "ein Volk" - und dass es der Westen sei, der einen Keil zwischen die Nationen treibe.

Moskaus rote Linien

Jetzt setzt Putin das Militär ein, um seine erneute Fixierung auf die Ukraine zu demonstrieren. Die jüngste Truppenkonzentration ist bereits die zweite in diesem Jahr. Dabei gehe es nicht um diffuse nostalgische Gefühle einer vergangenen Einheit, sagen viele russische Beobachter. Für Putin sei das Säbelrasseln Richtung Ukraine vielmehr eine Strategie.

"Der Kreml glaubt, dass der Westen russische Interessen komplett ignoriert, solange Russland die Sprache der Diplomatie spricht", sagt Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center, gegenüber der DW. Die gegenwärtige Truppenkonzentration und eine frühere Stationierung an der ukrainischen Grenze haben Putin zwei Treffen mit US-Präsident Joe Biden beschert. Nach einem bilateralen Gipfel im Juni hat der russische Präsident in dieser Woche über Video mit seinem US-amerikanischen Kollegen gesprochen.

Sotschi, Russland |Putin in Videokonferenz mit Biden
Gipfelgespräch als Belohnung? Russlands Präsident Wladimir Putin (r.) im Videotalk mit US-Präsident Joe Biden (l.)Bild: Mikhail Metzel/dpa/picture alliance

Putin hat dabei betont, dass eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine rote Linie überschreite. Er verlangt Garantien, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnt, also auch die Ukraine nicht aufnimmt. Der russische Präsident sieht in der NATO eine ernstzunehmende Gefahr, sagen sowohl Carnegie-Experte Trenin als auch der Politikwissenschaftler Konstantin Kalachev. Die jüngsten NATO- und US-Militärübungen im Schwarzen Meer nahe der Krim - die Moskau als russisches Territorium ansieht - haben diese Wahrnehmung noch verstärkt. "Putin will zwei Dinge: Stabilität und Souveränität", sagt Kalachev gegenüber der DW, und die NATO bedrohe aus seiner Sicht beide.

Eine Offensive nach innen

Allerdings zielen die russischen Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze auch auf ein heimisches Publikum, so der Politikberater und ehemalige Redenschreiber Putins, Abbas Gallyamov. Schließlich habe die Annexion der Krim Putins Popularitätswerte seinerzeit auf 88 Prozent emporschnellen lassen. Putin wolle unbedingt vermeiden, glaubt Gallyamov, dass seine Anhänger denken, er sei "nicht der, der er mal war" oder er zeige Schwäche gegenüber der Ukraine.

Leben im russisch-ukrainischen Grenzgebiet

Eine großflächige Invasion der benachbarten Ukraine wäre daheim allerdings auch nicht sehr populär, fügt der Politikberater hinzu. "Die Russen haben bereits erlebt, dass Siege im Ausland nicht nur Nationalstolz nach sich ziehen, sondern auch politische Unterdrückung im Inland und sinkende Lebensstandards." Die Annexion der Krim vor sechs Jahren hat Russland international isoliert und zu angespannten Beziehungen sowie Sanktionen seitens der EU und der USA geführt.

Ukraine Russland Konflikt
Ein ukrainischer Soldat an der Frontlinie zu den von Russland unterstützten Separatisten in der OstukraineBild: AFP via Getty Images

In den vergangenen Jahren hatten viele Russen bereits das Gefühl, in einer Art Kriegszustand zu leben, argumentiert Stepan Goncharov, Soziologe beim Lewada-Zentrum, einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut. "Diese konstante Anspannung beginnt, die Menschen zu belasten. Zunächst war das Thema Krieg etwas Neues, es hat ihnen das Gefühl zurückgegeben, zu einer Weltmacht zu gehören, zu einer großen, starken Nation", erklärt Goncharov mit Blick auf den Ukraine-Konflikt und die russische Beteiligung am Syrien-Krieg. "Aber mittlerweile würden die Menschen lieber in einem Land leben, das international weniger ehrgeizig und stattdessen großzügiger gegenüber seinen Bürgern ist, in einem stabileren, berechenbareren und wohlhabenderen Land."

Adaption aus dem Englischen: Beate Hinrichs