1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Einfrieren des "Krim-Problems" ist nicht zu leisten

3. September 2017

Im DW-Interview kritisiert Refat Tschubarow, Vorsitzender des Selbstverwaltungsrates der Krimtataren, FDP-Chef Christian Lindner. Dessen Vorschlag zur Lösung des Krim-Konflikts sei eine Katastrophe für sein Volk.

https://p.dw.com/p/2j8hb
Flagge der Krimtataren während der Proteste vor der russischen Botschaft in Kiew 2015
Flagge der Krimtataren während der Proteste vor der russischen Botschaft in Kiew Bild: picture alliance/ZUMA Press/S. Glovny

Refat Tschubarow ist Vorsitzender des Selbstverwaltungsrates der Krimtataren - des Medschlis - und Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Als lautstarker Kritiker der Annexion der Krim durch Russland wurde er von russischen Behörden mit einem Einreiseverbot auf die Halbinsel belegt, wo er und seine Familie zu Hause sind. Der Medschlis wurde nach der Annexion von russischen Behörden zerschlagen und verboten. Viele Aktivisten sind in Haft. Im Gespräch mit der DW macht Tschubarow deutlich, mit welchen Emotionen und Erwartungen die Krimtataren Äußerungen von deutschen Politikern über die Annexion der Krim und die Zukunft der Halbinsel wahrnehmen. Damit reagiert er auch auf ein Interview, das der Spitzenkandidat der FDP bei der Bundestagswahl, Christian Lindner, der DW gegeben hat.

DW: Herr Tschubarow,  Äußerungen von FDP-Chef Christian Lindner über die Krim-Krise haben in der Ukraine hohe Wellen geschlagen. Was sagen Sie zu Lindners Vorschlag, den Konflikt um die ukrainische Halbinsel Krim "einzufrieren"?

Refat Tschubarow: Ich sehe die Äußerungen von Herrn Lindner vor dem Hintergrund der Gefühle der Krimtataren, der Urbevölkerung der Krim. Vor dem Hintergrund der systematischen Repressionen gegen die Krimtataren, so wie grundsätzlich gegen alle auf der Krim, die sich der Ukraine verbunden fühlen, sehe ich in den Vorschlägen von Herrn Lindner, die Lösung der Krim-Krise zu vertagen, eine Einladung an Russland, die Repressionen mit neuer Wucht fortzusetzen. Das, was Herr Lindner sagt, ist eine Art "Sündenablass" für die Verbrechen, die von Russland auf der Krim begangen werden.

DW: Welche Verbrechen meinen Sie genau?

Refat Tschubarow
Refat TschubarowBild: DW/A. Sawitzky

Es ging los schon in den ersten Tagen der militärischen Operation Russlands auf der Krim. Am 3.März verschwand der krimtatarische Aktivist Reschat Ametow in Simferopol. Am 15.März wurde seine Leiche in einem Graben aufgefunden, er wurde vor dem Tod offenbar schrecklich gefoltert. Es war nur das erste Opfer. Nach der endgültigen Besetzung folgten weitere Morde.

Acht Krimtataren sind einfach spurlos verschwunden. Und wir wissen bis heute nicht, was mit ihnen geschehen ist. So ist letztes Jahr im Frühling der stellvertretende Vorsitzende des Weltkongresses der Krimtataren, Erwin Ibrahimow, verschwunden. Er war gerade mal um die 30 Jahre alt, als er verschwand. Wir wissen bis heute nicht, was mit diesem jungen Mann passiert ist. Der Annexion folgte auch eine Welle von Verhaftungen von Krimtataren, vielen von Ihnen wird "Extremismus" vorgeworfen. Mein Stellvertreter im Medschlis, Achtem Tschijgos, steckt seit zweieinhalb Jahren hinter Gittern. Am 11. September soll das Gerichtsurteil fallen. Der illegal von Russland eingesetzte Staatsanwalt fordert acht Jahre Haft. Mein anderer Stellvertreter Ilmi Umerow steht in diesen Tagen vor Gericht - alleine dafür, dass er es ein Mal wagte, das Offensichtliche öffentlich auszusprechen - dass die Krim-Annexion nach internationalem Recht illegal war. Ihm drohen mindestens fünf Jahre Haft. Ein anderer Krimtatare wurde erst vor wenigen Tagen zu 15 Jahren Haft verurteilt.

DW: Sehen Sie hinter dieser strafrechtlichen Verfolgung ein System?

Die russische Führung will alle von der Krim vertreiben, die der russischen Besatzungsmacht gegenüber nicht loyal sind. Das sind ukrainische Staatsbürger, allen voran Krimtataren. Für die Krimtataren ist das eine Katastrophe, weil sie lange dafür gekämpft haben, auf die Krim nach Jahrzenten der Vertreibung zurückzukehren. Fast ein halbes Jahrhundert haben die Krimtataren dafür gekämpft, seit Stalin 1944 das ganze Volk (nach Sibirien und Zentralasien - Red.) vertrieben hatte. Sie hatten sich nach der Rückkehr gerade erst halbwegs eingelebt, hegten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und dann hat Moskau sie auf der Krim wieder eingeholt. Diesen Menschen nun seitens der internationalen Politik zu sagen: wir warten ab, lockern die Sanktionen gegen Russland, setzen uns mit Putin dann eines Tages an den Verhandlungstisch - das ist verlogen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: mag sein, dass Herr Lindner oder andere Politiker meinen, sie können sich Zeit lassen mit der Krim, wir Krimtataren haben diese Zeit nicht.

DW: Herr Lindner schlug vor, die Frage der Krim "einzufrieren", ohne dabei die Annexion zu akzeptieren. Merkel, Macron, Poroschenko und Putin reden über Donbass und nicht über die Krim. Vielleicht spricht Lindner also einfach nur das aus, was längst Realität ist?

Christian Lindner mit Krim-Äußerung in russischen Online-Medien
Lindners Äußerungen zur Krim haben große Wellen in russischen Medien geschlagenBild: A. Riekmann

Die Realität ist immer so, wie die Politik diese gestalten will. Wir können natürlich sagen, dass mit russischem Eingreifen in der Ostukraine dieses Problem Vorrang genießt, und die Krim sollte erst dann in den Mittelpunkt rücken, wenn dieser Konflikt gelöst ist. Aber wir müssen schon jetzt klar formulieren, was unser Ziel ist. Und dieses Ziel muss die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine in den international anerkannten Grenzen sein.

Gleich zu formulieren, dass wir erst über die Ostukraine reden, daraufhin die Sanktionen gegen Russland lockern und dann Putin an den Verhandlungstisch über die Krim bitten - wenn wir nicht schon heute das klare Ziel hinsichtlich der Krim formulieren, dann ermutigen wir nur Putin das zu tun, was er tut. 

DW: Im DW-Interview erwähnte Lindner im Zusammenhang mit der Krim auch die von der Türkei besetzten Gebiete im Norden Zyperns. Mit der Türkei wurden EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen, obwohl das Zypern-Problem nicht gelöst ist. Seit mehr als vier Jahrzehnten ist diese Frage ungelöst. Was lässt sie daran glauben, dass dieses Schicksal nicht auch die Krim ereilen wird?

Zypern ist geteilt und ich hoffe, dass dieses Land eines Tages endlich wieder vereint sein wird. Aber dort wurden im Wesentlichen zwei ethnische Gruppen voneinander getrennt. Deren "Schutzmächte" Griechenland und die Türkei sind beide NATO-Länder. Es konnte vermieden werden, dass beide Seiten zu Repressionen gegen ethnische Gruppen greifen. Es gibt keine Massenverhaftungen, Durchsuchungen, Verschleppungen. Ja, der Konflikt ist eingefroren, aber die Situation ist eine andere. Auf der Krim haben wir aber die Situation, dass ein Volk aus seinem Land verdrängt wird, wie es bereits zwei Mal in der Geschichte der Fall war: und zwar nach der Einverleibung der Krim ins Russische Reich im Jahr 1783 und dann unter Stalin 1944. Welche Vergleiche auch immer man macht - mit eingefrorenen Konflikten in Nordzypern, in Transnistrien, im Bergkarabach - wir Krimtataren haben keine Zeit auf eine Lösung irgendwann in der Zukunft zu warten. Denn Russland verdrängt die Krimtataren von der Halbinsel und übersiedelt währenddessen massiv Russen auf die Krim. Das sind alles Tatbestände, die völkerrechtlich als Verbrechen geahndet werden sollen. 

Das Interview führte Eugen Theise.