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12-Stunden-Tage in Chinas Tech-Branche

1. Mai 2019

Arbeiten von früh bis spät, sechs Tage die Woche: Gegen eine solche Unternehmenskultur regt sich in China immer mehr Widerstand - vor allem in der Hightech-Branche.

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Großraumbüro
Bild: picture-alliance/dpa

Die Büroräume von Dimension in Shanghai haben den Charme eines Gamer-Jugendzimmers. Neben den Computertastaturen stehen offene Coladosen herum. Eine Puppe im Manga-Stil sitzt auf der Tischkante, auf der Firmenkatze CC, gesprochen Sissy, hat einer der Programmierer seine Tastatur abgelegt. Das Tier schnurrt leise unter den sanften Tastenanschlägen. Die lässige Atmosphäre ist Programm. Denn die Gründer von Dimension greifen die harschen Arbeitsgewohnheiten der Tech-Branche an, wo 80-Stunden Wochen eher die Regel als die Ausnahme sind. "Dieses Fabrikarbeitszeitmodell funktioniert nicht", ist Suji Yan (Artikelbild, rechts) überzeugt, der Gründer von Dimension.

In China sind diese Arbeitsbedingungen in der Tech-Branche unter dem Kürzel "996" bekannt geworden: 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche. Das chinesische Arbeitsrecht verbietet eigentlich exzessive Überstunden. Doch in der Branche wird das kaum durchgesetzt. "Programmierer gelten heute als eine Art Elite. Die Leute denken, dass Programmierer gut verdienen und niemand sieht, wie die Bedingungen wirklich sind", sagt Katt Gu (Artikelbild, links), die als Beraterin für Dimension arbeitet.

Gemeinsam haben sie einen Text auf die Programmierer-Plattform Github hochgeladen, der humane Arbeitszeiten für Programmierer verlangt. 996.icu ist eigentlich ein Textbaustein, den Programmierer in ihre Lizenzvereinbarung einbauen können. Dadurch verpflichten sich Firmen, die einen bestimmten Software-Code nutzen, sich an die örtlichen Arbeitsgesetze halten. Sonst verlieren sie die Lizenz.

Vietnam Hanoi | Jack Ma
Alibaba-Gründer Jack Ma: "Wenn wirkliche Liebe im Spiel ist, merkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht"Bild: Getty Images/AFP/H. Dinh Nam

"Riesiger Segen" für China

Dass die Arbeitsbedingungen in Chinas Tech-Branche wirklich über Lizenzbedingungen zu beenden sind, glauben beide aber nicht. "Uns ist klar, dass von dieser Lizenz keine wirkliche Macht ausgeht, aber wir können Aufmerksamkeit für das Thema erreichen", sagt Gu. Das ist ihnen gelungen. Das Thema wird im chinesischen Internet eifrig diskutiert - besonders seit sich Jack Ma in die Debatte eingeschaltet hat. Der Gründer des Internetgiganten Alibaba wird von vielen Chinesen als Business-Guru verehrt. In einer Rede vor Angestellten, die auf dem Firmen-Account veröffentlicht wurde, nannte er die 996-Arbeitszeiten einen "riesigen Segen" für Chinas Tech-Angestellte. "Wenn Du nicht mehr gibst als die Anderen, wie willst Du sonst erfolgreich sein?", fragte er in die Runde. Später ruderte er zwar halb zurück und schrieb in einem Weibo-Post, Firmen sollten solche Arbeitszeiten nicht erzwingen. Doch er schrieb auch, wer Erfolg haben wolle, werde diese Bedingungen freiwillig akzeptieren. "Mit der Berufswahl ist es wie mit der Partnerwahl", schrieb er. "Wenn wirkliche Liebe im Spiel ist, merkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht."

Katt Gu hat auf diese Überstundenromantik eine nüchterne Antwort. Wenn ein Unternehmen darauf angewiesen sei, dass die Mitarbeiter immer Überstunden machen, dann zeige das vor allem, dass die Produktivität niedrig ist, glaubt sie. "Dann sollte man über sein Management nachdenken".

Katt Gu und Suji Yan von der chinesischen Tech-Firma Dimension
"Was ist links?" Katt Gu (links) und Suji Yan von der chinesischen Tech-Firma Dimension in ShanghaiBild: DW/M. Bölinger

Kein Umdenken in Sicht

Bisher allerdings gibt es noch wenig Anzeichen, dass ein solches Umdenken tatsächlich stattfindet. Die Internetindustrie ist eine Vorzeigebranche in China. Der Konkurrenzdruck unter den Unternehmen, aber auch im internationalen Wettbewerb ist hoch. Zhao Yiqing arbeitet für Puhua Capital, eine Risikokapitalgesellschaft, die gezielt in Startups investiert. Sie beobachtet, dass "996" in fast allen Unternehmen die Regel sei - gerade in kleinen Startups werde häufig sogar noch mehr gearbeitet. "Diese Startups müssen viel Zeit und Aufwand investieren, bevor sie erfolgreich sein können. Wenn sie da nicht mithalten, verlieren sie schnell ihre Wettbewerbsfähigkeit."

Chinas Arbeitsbüros, die eigentlich sicherstellen sollten, dass die Arbeitsgesetze eingehalten werden, schreiten kaum ein. Als politische Aktivisten wollen Gu und und Yan dennoch nicht verstanden werden. Streitigkeiten über das Arbeitsrecht sind in China eine sensible Angelegenheit, die schnell eine harte Antwort des Staates nach sich ziehen können. Als sich im vergangenen Jahr eine Reihe Studenten mit streikenden Fabrikarbeitern in Südchina solidarisierte, griff der Staat hart durch. Viele der Studenten, die sich in einer marxistischen Studiengruppe kennengelernt hatten, wurden verhaftet, einige sind bis heute nicht wieder aufgetaucht.

Gu und Yan haben auf Github klar gemacht, dass ihr Lizenztext keinesfalls als politisches Manifest zu lesen sei. Von Reportern lassen sie sich versprechen, dass diese sie nicht in die Nähe von Arbeiteraktivisten rücken. "Ganz am Anfang fragte mich ein Journalist, ob ich links sei", erzählt Katt Gu. "Ich fragte zurück, was ist links? Von Politik habe ich keine Ahnung." Chinas Internetzensoren scheinen mit dieser Haltung zufrieden zu sein. Sie lassen die Debatte bisher laufen.

DW Autorenbild Mathias Bölinger / Leiter Investigation
Mathias Bölinger DW-Reporter und Leiter Investigation, zuvor Korrespondent in Kyjiw und Pekingmare_porter