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Kulturrevolution in Deutschland

Rodion Ebbighausen10. Mai 2016

Als Mao die Kulturrevolution ausrief, hörten ihn auch linke Studenten in Berlin. Gottfried Schmitt war damals aktives Mitglied der linken Szene. Heute sieht er vieles kritisch, aber einige Überzeugungen sind geblieben.

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Demonstrationszug der Studentenbewegung 1968 (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Als ich nach Berlin kam, gab es da eine Unzahl von marxistisch-leninistischen Organisationen. Viele Studenten haben Schulungen durchlaufen. Lektüre von Marx' 'Das Kapital', die Geschichte der Arbeiterbewegung und so weiter. Und da spielten eben auch China und die Kulturrevolution eine wichtige Rolle." Noch heute besitzt Gottfried Schmitt eine Ausgabe der Mao-Bibel. Das Büchlein hat er für das Gespräch mit der Deutschen Welle bereits herausgelegt. Ansonsten stehen die Bücherregale voll mit Literatur und großformatigen Kunstbänden. Mao neben Picasso und Giacometti. Bei der gut erhaltenen Mao-Bibel handelt sich um die erste Miniatur-Ausgabe von 1968. Gedruckt und verlegt in der Volksrepublik China. Sie versammelt Zitate und Schlüsseltexte von Mao Zedong.

"Der Maoismus und gerade die Kulturrevolution waren deshalb interessant", erklärt Gottfried Schmitt, "weil die Kulturrevolution programmatisch den Versuch darstellte, innerhalb der KP Chinas das Modell der immerwährenden Entmachtung der Eliten durchzusetzen. Stichwort: permanente Revolution. Auch in der sozialistischen Gesellschaft gibt es ja die Tendenz zur Herausbildung von etablierten Bürokratien, die die alten bürgerlichen Strukturen im Grunde rehabilitierten. Das hat Mao sehr klar gesehen. Und wir in Berlin hatten ja den real existierenden Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik direkt vor Augen. Das war ja nun wirklich kein Gesellschaftsmodell, das für die jungen rebellionswütigen Studenten ein Vorbild war."

Gottfried Schmitt (Foto: Rodion Ebbighausen)
Gottfried SchmittBild: DW/R. Ebbighausen

Von Freiburg bis zur Weltrevolution

Der ehemalige Lehrer und Bildhauer legt die Mao-Bibel auf den Wohnzimmertisch und skizziert seinen Weg aus einer bürgerlichen Pastorenfamilie in Freiburg bis nach West-Berlin, dem Brennpunkt der westdeutschen Studentenbewegung. Wie viele andere junge Männer mit linken Überzeugungen lehnte er den Militärdienst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ab. Als Fahnenflüchtiger wurde er nach einer Auslandsreise von den Feldjägern aufgegriffen und direkt in eine Kaserne gesteckt. Es folgten die Verweigerung, Beginn eines Studiums, dann der zivile Ersatzdienst in einer psychiatrischen Klinik am Bodensee. Dort wurde er als Organisator von Streikaktionen nach Tübingen strafversetzt. Schließlich die Flucht nach Berlin. Berlin war damals entmilitarisierte Zone, in der die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben war und damit auch kein Ersatzdienst geleistet werden musste. Dort fand Gottfried Schmitt viele Mitstreiter, die wie er an die Weltrevolution glaubten.

Doch ihm wurde schon früh klar, dass man nicht alles für bare Münze nehmen konnte. "Diese bibeltreue Auslegung der Mao-Schriften hatte ja auch eine lächerliche Seite. Der hatte ja für jeden Hühnerdreck eine Weisheit parat, was auch eine humoristische Variante beinhaltete. Die platte Übernahme funktionierte nicht." Zumindest nicht für Gottfried Schmitt, der bis heute mit Bedauern über die Kämpfe innerhalb der linken Bewegung spricht. "Es gab damals erbitterte ideologische Auseinandersetzungen. Die orthodoxen Maoisten konnten nicht mit den gemäßigten, die gemäßigten nicht mit der Moskau-Linie und so weiter. So ernst haben manche das genommen, dass es schon lachhaft wurde. Aber über das Lachhafte kommt dann natürlich die erste Selbstkritik. Man fängt an, sich zu fragen, ob es das wert ist, dass man persönliche Beziehung aufs Spiel setzt, nur weil man bestimmte Dinge unterschiedlich interpretiert. Es war ja nicht eine ganz andere Richtung, sondern einfach nur eine andere Interpretation."

Internationale Vietnam-Konferenz in der TU Berlin 1968 (Foto: dpa)
Auch der Vietnamkrieg war für die linken Studenten ein zentrales ThemaBild: picture-alliance/dpa

Gewerkschaftsarbeit statt Sektierertum

Vor extremistischen Positionen hat Gottfried Schmitt seine Arbeit bewahrt, wie er rückblickend mit einer Spur von Erleichterung sagt. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er bei einem Berliner Verlag, wo er sich von der Packmaschine im technischen Betrieb bis zur Manuskriptbetreuung hochgearbeitet hatte. Aber er war kein Einzelkämpfer: "In der dortigen Betriebsgruppe habe ich mich natürlich gewerkschaftlich organisiert. Und wir haben bei den Kolleginnen und Kollegen auch versucht zu agitieren, sind aber dann entsprechend auf die Schnauze gefallen. Wenn du denen erzählen wolltest, wir wissen, was ihr zu tun habt, damit ihr glücklich werdet, dann haben die einem einen Vogel gezeigt und gesagt: So läuft das nicht. Die Betriebsarbeit hat dazu geführt, dass man von den sogenannten normalen Menschen ganz praktisch korrigiert wurde. Da gab es für mich dann eine entschiedene Abkehr von diesen sektenartigen Parteimodellen."

Dass trotzdem viele auf Mao und die Kulturrevolution in extremen - das heißt buchstabengetreuen - Varianten gesetzt hätten, habe auch daran gelegen, dass die Studenten nur wenig über die tatsächlichen Vorgänge in Asien wussten. "Was sich da politisch tatsächlich bewegt hat, sowohl in China als auch in Vietnam, Laos und Kambodscha, das war uns nur über die Propagandamedien der Chinesen zugänglich. Und da war natürlich wie in jeder Propagandadarstellung die Realität weitgehend ausgeklammert. Da wurde nicht erzählt, wie viele Tausende in Umerziehungslager in China gesteckt wurden, wie viele Tote es gegeben hat. Das war uns alles im Grunde genommen nicht bekannt. Das war im Übrigen damals auch der bürgerlichen Presse im Westen so nicht bekannt, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Irrtum war aber in jedem Fall, dass man zu wenig kritisch hinterfragt hat. Diese Propaganda, die über die chinesische Botschaft in Ost-Berlin nach West-Berlin geliefert wurde, und zwar lastwagenweise, die war ja offensichtlich gesteuert."

Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) auf einem Pfingsttreffen (Foto: Jens Rötzsch)
Die DDR in ihrer ganzen Spießigkeit war ja keineswegs ein attraktives Modell, sagt Gottfried SchmittBild: Jens Rötzsch

Empörung ohne Ausweg

Gottfried Schmitt ist anzumerken, dass er in einem Zweispalt steckt. Vom Gefühl her ist er immer noch für die Revolution. Der Zustand der Welt empört ihn heute ebenso wie damals. "Wenn ich die Bilder von Kindern sehe, die in Afrika im Industriemüll der 'zivilisierten' Welt auf qualmenden Müllbergen Wertstoffe herauspulen, dann finde ich die Situation noch dramatischer als im 19. Jahrhundert. Trotz Kinderarbeit im 19. Jahrhundert ist für viele Millionen Kinder die Situation heute schrecklicher und lebensbedrohlicher." Auch ist er überzeugt, "dass die politisch-ökonomische Analyse von Marx nach wie vor gültig ist. Wenn man 'Das Kapital' heute wieder liest, ist es umwerfend, wie scharfsinnig seine Analyse der Ausbeutung ist, auch wenn diese sich heute internationalisiert hat." Allerdings ist er desillusioniert, was die vermeintlich kommunistischen Revolutionen in Russland, China oder Kambodscha angeht. Sie hätten die Lage der Menschen keineswegs gebessert. Marx zeige zwar ganz richtig, woran die Welt kranke, aber alle bisherigen Versuche, Marx Ideen in konkreter Politik umzusetzen, seien gescheitert.

Was bleibt, ist eine Zerrissenheit. Davon zeugt auch Gottfried Schmitts weiterer Lebensweg. Für ihn hatte sein politisches Engagement wie für viele andere auch persönliche und berufliche Konsequenzen. Aufgrund der Anmeldung einer Demonstration wurde der studierte Germanist und Sozialwissenschaftler später als Lehrer nicht verbeamtet. Das erfuhr er aus seiner Personalakte, die er viele Jahre später einsehen konnte. Er reiste nach Algerien, in der Hoffnung ein anderes sozialistisches Modell zu finden, doch auch hier folgte bald die Enttäuschung. Er arbeitete im Strafvollzug, wo er Jugendliche bei der Wiedereingliederung unterstützte, als Dozent für Deutsch an einer ungarischen Hochschule, als Lehrer an einer deutschen Berufsschule und wandte sich schließlich immer mehr der Kunst zu. Heute ist er Bildhauer und stellt seine Werke regelmäßig aus. Dazu sagt er: "Ich möchte etwas Bleibendes schaffen."