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Langes Machtvakuum in der Ukraine

22. Juni 2006

Gewöhnlich ziehen Journalisten 100 Tage nach dem Antritt einer Regierung Bilanz. In der Ukraine gibt es seit fast 100 Tagen keine Regierung. Experten kritisieren den Verlust wertvoller Zeit.

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Seit den Wahlen im März zieht sich die Regierungsbildung hinBild: AP

Seit einem halben Jahr tritt die Ukraine auf der Stelle, nachdem die Werchowna Rada der Regierung Jechanurow das Misstrauen aussprach. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und dem Parlament aufgekündigt. Die Politik stürzte sich in den Wahlkampf. Die Koalitionsverhandlungen nach Ausgang der Parlamentswahlen ziehen sich in die Länge.

Infolge des Machtvakuums habe die Ukraine wertvolle Zeit zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme verloren, sagt der Direktor des Institutes für wirtschaftliche Forschungen und politische Beratung, Ihor Burakowsky: „Wegen des andauernden Machtvakuums kommen für das Land wichtige Reformen nicht voran, so zum Beispiel notwendige Renten- und Sozialreformen. Die Regierung, die die letzten Tage dahinvegetierte, konnte nicht wirksam arbeiten. Dieser „schwebende Zustand“ zieht sich hin“.

Gefährliches Machtvakuum

Das Machtvakuum destabilisiere die Situation im Land, sagt der Direktor der Konrad Adenauer Stiftung in Kiew, Ralf Wachsmuth: „Es ist schon erstaunlich, dass die Verhandlungen so lange dauern und das bis jetzt kein Ende abzusehen ist, obwohl man natürlich gewaltig unter Zeitdruck steht. Im Land besteht ein unglaublicher Reformbedarf. Es gibt immer noch kein Verfassungsgericht. Die Gebiete im Osten machen, was sie wollen: Die einen erklären sich zur NATO-freien Zone, die anderen erklären Russisch zur Regionalsprache. Zum Beispiel die Situation auf der Krim: Mehrere hundert Demonstranten blockieren internationale Manöver – sie hebeln praktisch den Rechtsstaat aus! Dies hinterlässt auch in der Bevölkerung tiefe Spuren und verstärkt die Politikverdrossenheit noch mehr. Auch im Ausland ist der Eindruck verheerend.“ Während Russland wieder plane, die Vertragsbedingungen für Gaslieferung zu erneuern, gebe es in der Ukraine keine Ansprechpartner für Verhandlungen, so Wachsmuth.

Ihor Burakowsky ist der Meinung, die Vertreter der Parteien hätten keine konkreten Vorstellungen von der wirtschaftliche Zukunft des Landes: „Da die ukrainischen Parteien über keine konkreten wirtschaftlichen Programme verfügen und die ideologischen Differenzen unbedeutend sind, hat auch die Zusammensetzung der zukünftigen Regierungskoalition für die Wirtschaft des Landes keine entscheidende Bedeutung Es ist viel wichtiger für die Ukraine, dass überhaupt eine neue Regierung gebildet wird“, sagte Burakowsky.

Klarere Spielregeln

Dank der Verfassungsreform wird das neue Ministerkabinett nach deutlicheren politischen Regeln arbeiten, als es früher der Fall war. Denn die Regierung wird sich künftig auf Mehrheiten im Parlament stützen können. Ihor Burakovsky meint: „Früher gab es das Dreieck des Widerstands: „Präsident – Parlament – Regierung“. Viele Initiativen, mit denen sich die Regierung während der letzten eineinhalb Jahre an das Parlament wandte, wurden dort aufgrund politischer oder anderer Meinungsverschiedenheiten abgewiesen“, sagte der Experte.

Auch Ralf Wachsmuth ist davon überzeugt, dass die Verfassungsänderung ein wichtiger Schritt bei der Reform des politischen Systems in der Ukraine ist: „Ich glaube, die Verfassungsreform war notwendig. Möglicherweise ist sie einfach zu früh gekommen, weil sie ein stabiles Parteiensystem voraussetzt, das eben noch nicht vorhanden ist. Das ist das Hauptproblem. Parlament und die Regierung bekamen mehr Macht. Das ist ja nichts Ungewöhnliches - ganz im Gegenteil, es passt in die europäische Tradition. Nur müssen die Teilnehmer – und das sind in erster Linie die Parlamentarier – zu diesem Umbruch in der Lage sein. Aber die Politiker im ukrainischen Parlament definieren ihre Aufgabe anders als die Parlamentarier in den übrigen europäischen Demokratien“.

Eugen Theise

DW-RADIO/Ukrainisch, 20.6.2006, Fokus Ost-Südost