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Leben im Zeitraffer

Kristina Reiss3. September 2007

Wo heute das kleine Häuschen steht, macht sich morgen ein Wolkenkratzer breit. Wer ein paar Jahre nicht in Schanghai war, findet sich nicht mehr zurecht. In Deutschland kann einem das nur schwer passieren.

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Als meine Bekannte Liu Ming nach fünf Jahren in Deutschland wieder in ihre Heimatstadt Schanghai zurückkehrte, traute sie ihren Augen kaum. "Ich kenne mich hier überhaupt nicht mehr aus“, staunte sie mit offenem Mund. "Hier ist alles völlig verändert.“

Schanghai ist die am schnellsten wachsende Stadt Asiens. Allein in den vergangenen 15 Jahren wurden in der 18-Millionen-Metropole mehr Wolkenkratzer gebaut als New York insgesamt vorzuweisen hat. Übergangslos ist Schanghai von der Landwirtschaftsgesellschaft ins Industriezeitalter gesprungen. Entwicklungen, die in Europa 80 Jahre und mehr gebraucht haben, vollzogen sich hier in nur wenigen Jahren. In der Kindheit der 32-jährigen Liu Ming gab es zu Hause nur ein Plumpsklo; gegenüber der alten Uferpromenade, dem so genannten Bund mit seinen Prunkbauten aus der Kolonialzeit, wuchs nichts als Reis. Heute entwickelt Liu Ming Computerspiele, und auf der anderen Seite des Flusses wächst die modernste Skyline der Welt in den Himmel: Das neue Handels- und Finanzviertel Pudong.

Satellitenstädte aus dem Boden gestampft

Selbst wenn man nicht nur alle paar Jahre nach Schanghai kommt, sondern in der Megacity lebt, muss man sich ständig neu orientieren. Eine Woche nicht bei dem kleinen Gemüsehändler an der Ecke eingekauft und schon kann es passieren, dass man nicht mehr ihn, sondern ein riesiges Bauloch findet. Ein paar Monate später ist es ausgefüllt von einem verspiegelten Wolkenkratzer.

Bis 2010 wird das unglaubliche Tempo, in dem hier Bauprojekte realisiert werden, noch mal zunehmen. Dann nämlich findet in Schanghai die Expo, die Weltausstellung statt, die die Metropole noch mehr ins Licht der Weltöffentlichkeit rücken soll, als sie es heute bereits steht. Bis zu dem magischen Datum werden zum Beispiel im Großraum Schanghai neun Satellitenstädte zum Teil völlig neu entstehen. Sie sollen der Platznot der Megametropole Rechnung tragen und es attraktiv machen, auch außerhalb der achtgrößten Stadt der Welt zu leben und zu arbeiten. So wird in den nächsten drei Jahren 60 Kilometer von Schanghai entfernt die neue Stadt Lin Gang buchstäblich aus dem Boden gestampft. Auf 300 Quadratkilometern, der Fläche von München, sollen hier einmal 800.000 Menschen leben.

Atemberaubendes Tempo - unvorstellbare Dimensionen

Für ausländische Architekten sind die Dimensionen des Städtebaus paradiesisch. "Wo sonst gibt es Projekte in solcher Größenordnung“, schwärmt mir ein in Schanghai ansässiger deutscher Architekt vor. "Wäre ich in Deutschland, würde ich höchstens an einer Turnhalle oder einem Dachausbau arbeiten.“ Es sind dann auch eher Westler, die skeptisch fragen: "Wie wollt ihr das in nur drei Jahren alles realisieren?“ Ein chinesischer Funktionär antwortete darauf neulich: "Keine Angst, wir sind hier in China, nicht in Europa.“

In der Tat. Wie sehr sich das Tempo in den beiden Kontinenten unterscheidet, musste auch ein deutscher Bekannter feststellen, der nach vier Jahren Schanghai wieder zurück in die Heimat zog. "Am meisten zu schaffen macht mir dieser Stillstand hier“, mailte er kürzlich. "Als ich nach Schanghai zog, wurde gerade über die Erweiterung des S-Bahnnetzes diskutiert. Jetzt bin ich zurück und sie diskutieren immer noch.“

In Schanghai sollen bis zum Beginn der Expo fünf weitere Metrolinien gebaut werden. Statt wie heute nur 800.000 Pendler könnten dann fünf Millionen Menschen täglich befördert werden. Drei Jahre hat sich die Stadt dafür Zeit gegeben. Die Stadt Düsseldorf plant den Bau einer einzigen U-Bahn-Strecke mit sieben Jahren.