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Glaube

Leben in Fülle – Unfromme Gedanken zu Johannes 10

5. Mai 2017

Ein Leben in Fülle, das verspricht der gute Hirte im Johannesevangelium (10, 1-10). Hildegard König von der katholischen Kirche fragt sich provokativ, wie erstrebenswert solch ein Leben im Überfluss für sie wirklich ist?

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Schafsherde: Ein Leben im Überfluss? Was heißt das, wenn Menschen als Schafe gezeichnet warden? Bild: pixelio.de/Rainer Sturm

Beim Aufräumen letzthin fiel mir ein kleines „Fleißbildchen“ in die Hand. So etwas gab es vor einigen Jahrzehnten im Religions- oder Handarbeitsunterricht für brave Mädchen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je eines war, aber das Bildchen muss ja irgendwie in meinen Besitz gekommen sein. Abgebildet darauf: Der gute Hirte und seine Schafe – alles lieblich im Nazarenerstil und pastellig eingefärbt. Keine Spur von Widerspruch oder Ironie stört die Idylle, kein schwarzes Schaf und keines, das bockt.

„Verlogenes Zeug“, geht es mir durch den Kopf in Richtung Papierkorb. Doch dann entscheide ich: „Das kommt in die Bibel, wohin es motivisch gehört, als Lesezeichen“. Ich schlage Johannes 10 auf, das Kapitel vom guten Hirten. Dort gehört es hin. Im Überfliegen mutete mir der Text genauso weltfremd an wie das Fleißbildchen. Und dann gibt er mir doch zu denken. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Das ist von Schafen gesagt, die freilich in dem Rätselbild von den Hirten und den Schafen für Menschen stehen. „Leben in Fülle“: Ein Schäfer könnte mir vielleicht Auskunft geben, was das für Schafe bedeutet. Was es für mich bedeutet, muss ich selbst herausfinden. Wie „in Fülle“ zu verstehen ist, geht mir beim Blick in ein Lexikon zur Bibel auf: Hinter der deutschen Übersetzung „in Fülle“ steht das griechische „perisson“, was wörtlich „ringsum über sich hinaus“ heißt, und konkret „Überfluss“ bezeichnet, also: „das Leben haben und es im Überfluss haben“.

Ein Leben in Fülle

„Leben im Überfluss“ – Ist das für mich erstrebenswert? – Nein. Ich hab‘ es ja schon, das Leben im Überfluss, ich hab‘ es jeden Tag: Leben in der „Überfluss-Gesellschaft“, in der das Versprechen „Mehr von allem“ als Glücksverheißung ein Grundrauschen der medialen Werbung ist. Dem bin ich im Privaten ausgeliefert und im Öffentlichen nicht weniger: Überschuss, Zuwachs und „Mehr als bisher“ liegen mir als die steten Obertöne eines erfolgreichen wirtschaftlichen und politischen Handelns in den Ohren.

Dort, wo Mangel herrscht, wo es von allem zu wenig gibt, wird das „Mehr von allem“ zum Lockruf einer scheinbar besseren Zukunft, eines Lebens im Überfluss. Nicht erst heute treibt dieser Lockruf Menschen um, auch in früheren Zeiten hat er sie aus ihrer Heimat in die Fremde, übers Meer und nicht selten in den Tod getrieben. Der Aufbruch „in ein Land, wo Milch und Honig fließen“ (Ex 3, 8), verläuft sich oft in Wüsten oder endet auf einem sinkenden Boot.

Überfluss erzeugt Sog und Druck. Ich bemerke das nicht nur um mich herum. Ich erlebe auch mich selbst in einen Strudel hineingezogen, gegen den anzukämpfen mir alle Kraft abverlangt. Da wird der Klang der Verheißung zum angstmachenden Sirenenton oder zum zudringlichen Gedröhn des Allzuvielen an Waren und Angeboten, an Informationen und Sinnesreizen, an Wahrheiten und Alternativen.

„Leben im Überfluss“ – für mich eine fragwürdige Verheißung. „Leben in Fülle? Ein Leben ringsum über sich hinaus?“ – Wie denn, wenn Menschen als Schafe gezeichnet werden?

Das geht mir gegen den Strich. Ich bin kein Schaf, und lasse mir keinen Hirten vor die Nase setzen. Ich halte mir zugute, dass ich meinen Weg selbst finde. Ich lebe mein Leben…

Leben voller Hingabe

Manchmal aber droht dieses Leben über sich hinaus zu geraten, mir über die Kräfte zu gehen. Dann schmerzen mich das Zuviel und das Zuwenig darin. Es setzt mir zu, wenn ich in die Irre gehe und mich neu orientieren muss, oder wenn ich mein Selbstbild bewahren will bis zur Erschöpfung und eigentlich nur noch davonlaufen möchte.

Ich gebe es zu, in solchen Momenten hat des Schafes „Leben in Fülle“ seinen eigenen Reiz: Die Freiheit einer Weide mit genug Nahrung und Spielraum, sich dort selbst zu genügen und unter dem Himmel auf der Erde sein zu dürfen, einfach so, und leben zu können ohne allzu große Ansprüche. – Aber das ist Eskapismus, nicht „Leben ringsum über sich hinaus“.

Vor ein paar Wochen starb ein mir sehr lieber Mensch, kurz vor seiner Pensionierung. Zu Beginn einer Arbeitswoche wurde er aus seinem gewohnten Leben herausgerissen. Pläne und Erwartungen für die Zeit des Ruhestandes: aus und vorbei. Sein Sterben war die letzte Anfrage an sein Leben. War das ein „Leben in Fülle“ gewesen?

Er war jedenfalls einer, der sein Leben voller Hingabe gelebt hatte. Es war eine Hingabe an die Menschen, mit denen er zu tun hatte, und an das Stück Welt, in dem er Zuhause war. In Erinnerung an ihn geht mir allmählich auf, was „Leben ringsum über sich hinaus“, was „Leben in Fülle“ bedeuten kann, und dass solche Hingabe eine Spur dorthin ist.

Hildegard König Wort zum Sonntag Chemnitz NEU
Bild: Hildegard König

Professorin Dr. Hildegard König hat in Tübingen katholische Theologie und Germanistik studiert. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt im Bereich „Alte Kirchengeschichte und Patristik“. Nach einem Studienaufenthalt in Rom lehrte sie an den Universitäten Luzern, Frankfurt, Tübingen und an der RWTH Aachen. Nach einer Gastprofessur an der LMU München arbeitet sie seit 2011 als Professorin für Kirchengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Darüber hinaus ist sie als freie Dozentin tätig.