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Glaube

Leben in Festlaune

19. Juni 2018

Vier Wochen Fußball-WM - vier Wochen Pause vom ‚Ernst des Lebens‘. Angelika Obert denkt an einen berühmten Satz von Friedrich Schiller und fragt nach der menschlichen Freiheit.

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Symbolbild Erstliga Fußball
Bild: picture-alliance/AP Photo/S. Paston

‚Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt‘. So sagt es Friedrich Schiller. Das fällt mir ein, wenn an warmen Sommerabenden die Straßen in Berlin plötzlich wie ausgestorben sind, weil alle Welt sich zum Fußballgucken versammelt hat. Wenn ich dann noch unterwegs bin, kann ich den Spielverlauf durch die geöffneten Fenster mitverfolgen: Vielstimmiges Stöhnen signalisiert einen misslungenen Konterangriff, Böllerschüsse aus den Kleingärten verheißen: ‚Tor!‘ Wenn‘s lange mäuschenstill bleibt, ist es kein gutes Zeichen. Dann droht, was schiefzugehen.

Ich mag diese besondere Atmosphäre während eines wichtigen WM-Spiels: Spannung liegt in der Luft und zugleich erscheint die Stadt viel gelöster als sonst. Für eine Weile tritt der geballte Ernst des Lebens zurück, den sonst alle mit sich herumschleppen, jede und jeder getrieben von eigenen Sorgen, Ängsten und Pflichten. Für eine Weile richtet sich die gesammelte Aufmerksamkeit auf‘s Spiel, das auch furchtbar ernst genommen wird und doch Distanz schafft, inneren Abstand zu den eigenen Angelegenheiten. Da kommt mir die Welt gleich etwas menschlicher vor.

Spielerische Freiheit

Natürlich weiß ich: Ein zweckfreies Spiel im Sinne Schillers ist eine Fußball-WM nun wirklich nicht. Längst steht sie im Dienst beträchtlicher wirtschaftlicher und auch politischer Interessen. Und natürlich kann einen der Anblick einer Horde grölender oder sogar gewalttätiger Fußballfans an der Menschlichkeit des Menschen auch zweifeln lassen. Schiller sagt ja auch gar nicht: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er einem aufwändig inszenierten Spiel zuguckt. Er sagt: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er - selber – spielt.“ An Fußball hat er dabei sicher gar nicht gedacht. Ihm ging‘s um die Freiheit. Solange wir bloß nützlich sind, irgendwelchen Zwecken oder auch Zwängen folgen, sind wir nicht frei, meinte er, und zum Menschsein gehört nun mal die spielerische Freiheit.

Die Arbeit ist wie eine Zwangsjacke

Der ‚Ernst des Lebens‘ tut ja oft so, als ob die Arbeit und das eigene Fortkommen das Wichtigste im Leben wären. Was wir sind, definieren wir durch unsere Berufsbezeichnung. Schiller sagt dagegen: Die Arbeit macht uns nicht zu Menschen. Die Arbeit macht uns eher verbissen und betriebsblind. Jeder kennt da nur seinen eigenen Bereich, die immer gleichen Abläufe, die sich im Gehirn festsetzen. Die Arbeit ist wie eine Zwangsjacke, in der wir eben nicht mehr ganz wir selbst sind, sondern zu Rädchen im Getriebe werden. Menschen sind wir, wo wir selbstbestimmt und zweckfrei handeln – spielerisch eben.

Mit innerem Abstand ganz da

Die Fußball-WM schafft zumindest eine Atmosphäre, in der wir Abstand gewinnen zu unsern Alltagszwängen. Viele erleben sie darum als Fest: Vier Wochen, in denen das Spiel im Vordergrund steht und die Arbeit nicht so verbissen gesehen wird wie sonst. Tatsächlich  geht es da auch ums Ganze: Ganz da sind wir, wenn wir beim Spiel mitfiebern, mitleiden, mitjubeln, ganz da, gerade weil  es „nur Spiel“ ist.

Könnte man nicht immer so leben: In Spiellaune, gewisser Feststimmung, ganz da? Unmöglich, sagt die Erfahrung. Schon möglich, meint der Apostel Paulus. Er schreibt: Menschen, die an Christus glauben, können nicht auf sich selbst fixiert sein. Sie können alles, was sie tun und treiben, wie ein Spiel betrachten. Es so tun, als ob sie es nicht tun müssten. Sie können Direktor sein, als ob sie nicht Direktor sein müssten oder Mütter, als ob sie nicht Mütter sein müssten. Sie können spielerisch zur Arbeit gehen, als ob sie nicht zur Arbeit gehen müssten. Können Siege feiern, als ob sie nicht gesiegt hätten. Und Niederlagen erleiden, als ob es keine Niederlagen wären. (nach 1. Korinther 7, 29 – 31) Sie haben den inneren Abstand, sie sind freie Menschen.

 

Zur Autorin:

Evangelische Pfarrerin Angelika Obert
Bild: Angelika Obert

Pfarrerin. i.R.Angelika Obert (Jahrgang 1948) war von 1993 - 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Nach dem Studium der Evangelischen Theologie und der Germanistik besuchte sie eine Schauspielschule, bevor sie Pfarrerin wurde. Als Autorin gestaltet sie auch Sendungen für den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.