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Lebendige Literatur aus Neuseeland

Ulrike Sommer5. Oktober 2012

Neuseelands Bewohner tragen den Spitznamen Kiwis. Doch das multikulturelle Land, 2012 Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse, hat mehr zu bieten als Vögel, Schafe und Hügel. Nämlich eine lebendige Literaturlandschaft.

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Kiwis auf einem Verkehrsschild in Neuseeland (Foto: Ulrike Sommer/DW)
Bild: DW /Ulrike Sommer

Schon der Name, den die Maori seiner Heimat Neuseeland gab, ist reine Poesie: Aotearoa - "Das Land der langen weißen Wolke". Nur etwa fünf bis zehn Prozent der Neuseeländer sprechen heute noch fließend das Te Maori, die Sprache der indigenen Bevölkerung. Ihre Erzähltradition war eine mündliche, ihre Geschichten und Mythen sind vor allem von christlichen Missionaren überliefert worden. Erst seit etwa 20 Jahren werden sie niedergeschrieben.

Die Dichterin Selina Tusitala Marsh ist Dozentin an der Universität von Auckland und Spezialistin für maorische und pazifische Literaturwissenschaft. Ihre Vorfahren sind aus Samoa, Tuvalu und Europa - ein ganz normaler Stammbaum in der Einwanderernation Neuseeland. Marsh, die das Online-Portal Pasifika Poetry gegründet hat, veröffentlichte 2009 einen viel beachteten Gedichtband: “Fast Talking P.I“. P.I. steht für Pacific Islander, die etwa sieben Prozent von Neuseelands Bevölkerung ausmachen.

Hören statt lesen

Zum Buch gehört eine CD, denn eigentlich muss man diese Gedichte hören. Spoken Poetry - eine sehr populäre Form, nah an der Lebenswirklichkeit der polynesischen Einwanderer und ihrer Probleme. Damit, sagt Marsh, erreicht sie Menschen, die niemals Bücher lesen. Im Titel-Gedicht schleudert sie einem alle gängigen P.I.-Klischees entgegen, vom Sozialschmarotzer bis zum Kriminellen, und stellt ihnen positive Rollenmodelle gegenüber. Es sei Zeit, ein anderes Lied zu singen, meint sie, doch die Medien ignorierten einfach, dass die Community der pazifischen Einwanderer so heterogen ist wie der Rest der Gesellschaft.

In "Two nudes on a Tahitian Beach" geht es um ein berühmtes Gemälde Paul Gauguins. Zwei exotische Frauen am Strand, Projektionsfläche der erotischen Fantasien europäischer Kolonialherren - und doch so umwerfend schön, dass sich die empörte Sprecherin des Gedichts dem Zauber nicht entziehen kann.

Selina Tusitala Marsh - Gedicht # 28.09.2012 # Kultur.21

Mit wehenden Haaren steht Selina Marsh an Bord der Fähre von Auckland nach Waiheke Island und rezitiert Maori-Mythen. Gauguin wäre hingerissen. Und überrascht: Wenige Minuten später steigt die Sirene der Pasifika Poetry in den Boxring. Mit dem Kick-Boxen hat sie angefangen, um den Tod ihrer Mutter verarbeiten. Auf eine körperliche Weise, so wie es ihre Verwandten auf den polynesischen Inseln tun. Kampfsport und Trauerarbeit - daraus entstand eine Gedichtserie. Marsh liebt es, Poesie an unkonventionelle Orte bringen. Jetzt eben in die Box-Arena.

Vom ersten in Neuseeland veröffentlichten Gedichtband bis zur dieser  zeitgenössischen Form der Dichtkunst sind es gerade mal 165 Jahre. Der erste Roman erschien hier sogar erst 1861. Und mehr als 100 weitere Jahre vergingen, bis der erste Maori-Roman veröffentlicht wurde.

Witi Ihimaera ist sicherlich der prominenteste Maori-Autor. Er nimmt seine Leser mit in eine fantasievolle Welt und schöpft dafür aus der eigenen Stammesgeschichte. Sein berühmtester Roman, “The Whale Rider“ (1987) ist die Geschichte des Maori-Mädchens Kahu, das versucht, gestrandete Wale zu retten. Er wurde in 20 Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt.

Multikulti ist Alltag in Neuseeland

Vom Zusammenleben der Maori und der Pakeha, der weißen Neuseeländer, erzählt Keri Hulmes mystischer Roman “Unter dem Tagmond“ (“The Bone People“). Die Autorin, Tochter eines schottisch-englischen Vaters und einer Maori-Mutter, schildert darin das Leben in der Lagune bei Okarito an der Westküste der Südinsel, wo sie selbst viele Jahre lebte. Der Roman, der tief in die Mythen und Symbolwelt der Maori eintaucht, wurde 1985 mit dem Booker Prize ausgezeichnet und ist einer der bekanntesten neuseeländischen Romanen überhaupt.

Zu den derzeit meistgefragten Autoren europäischer Abstammung gehört Lloyd Jones, sein Bestsellerroman “Mr Pip“ ist preisgekrönt. Jones arbeitete lange als Journalist und wurde dabei Augenzeuge eines Konflikts, der im Westen weitgehend unbeachtet blieb: der blutige Bürgerkrieg auf der Pazifik-Insel Bougainville, Hintergrund für “Mr Pip“.

Die Titelfigur: Ein schrulliger Lehrer wider Willen, der letzte Weiße auf der Insel, der seine schwarzen Schüler in die Welt von Charles Dickens "Große Erwartungen" entführt. Jones' Roman zeigt die Grausamkeit des Krieges und die Macht der Fantasie, geschrieben aus der Perspektive eines schwarzen Mädchens. Die Verfilmung hatte vor kurzem auf dem Filmfestival in Toronto Premiere.

Europäisches Flüchtlingsdrama als Vorlage

Als Autor in eine Figur zu schlüpfen, die eine andere Hautfarbe und ein anderes Geschlecht hat, diese Technik wendet Jones auch in seinem jüngsten Roman an: “Die Frau im blauen Mantel“ (“Hand me down world“). Hauptfigur ist Ines, eine schwarze Hotelangestellten aus Nordafrika, die illegal über Italien nach Berlin reist, um ihr Kind zu suchen. Es wurde verschleppt von seinem Vater, einem Hotelgast. Die Idee dazu kam Lloyd Jones während eines Stipendien-Aufenthalts in Berlin. In einem Zeitungsartikel las er über afrikanische Flüchtlinge, die von europäischen Behörden auf hoher See einfach ihrem Schicksal überlassen wurden. Daraus wurde die Geschichte von Ines. Doch bis der Leser ihre Version der Ereignisse hört, lässt Jones erst einmal die vielen Personen zu Wort kommen, denen Ines auf ihrer Reise begegnet. Mit diesem Kunstgriff hält er dem Leser einen Spiegel vor, konfrontiert ihn mit den eigenen Vorurteilen. Ein berührender Einblick in die Welt der illegalen Immigranten, einer verdrängten Parallelgesellschaft in der sogenannten Festung Europa.
Jones kreist immer wieder um die Fragen: Was bedeutet die eigene Hautfarbe? Was macht unsere kulturelle Identität in einer postkolonialen Gesellschaft aus? Fragen, die durchaus repräsentativ sind für die junge Nation Neuseeland mit ihren verschiedenen Einwanderer-Communities.

Die zeitgenössische neuseeländische Literaturszene, so Jones, ist in den letzten Jahren durch diese neuen literarischen Stimmen, vor allem aus Asien und Polynesien, unglaublich bereichert worden. Beim Ehrengast-Auftritt in Frankfurt kann man sich jetzt einen Eindruck von der spannenden kulturellen Vielfalt der "Kiwis“ verschaffen.

Lloyd Jones - Lesung # 28.09.2012 # Kultur.21

Selina Marsh - kickboxing # 28.09.2012 # Kultur.21