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Debatte über die Einheit

30. September 2010

Die Ostdeutschen stellen zwar nur ein Fünftel der Bevölkerung, aber in der Aussprache über den Stand der Deutschen Einheit bildeten sie eine klare Mehrheit. Unter den acht Rednern war nur ein Westdeutscher.

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Jubelnde Menschenmassen vor dem Berliner Reichstags-Gebäude, die am 3. Oktober 1990 mit Feuerwerk, Deutschlandfahnen und Volksfest-Trubel die wiedergewonnene Einheit Deutschlands feiern. (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Sein Wahlkreis, sagte der ehemalige Wirtschaftsminister Michael Glos, habe früher direkt an der Zonengrenze gelegen. Für ihn sei die Wiedervereinigung ein Traum gewesen, der Höhepunkt seines politischen Lebens. Er bedanke sich als gläubiger Christ beim Herrgott und bei allen Menschen, die an der Wiedervereinigung mitgewirkt hätten. Es sei ein Grund zur Freude und nicht zum Jammern, dass die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts so verlaufen sei.

Gejammert beziehungsweise kritisiert wurde zuvor eine Menge. Allen voran die aus dem Osten Berlins stammende Partei-Vorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch, zog eine negative Bilanz. Die Einheit werde erst erreicht sein, wenn es gleiche Renten gäbe, gleiche Löhne, die gleiche Anzahl von Plätzen in Kindertagesstätten, die gleiche Anzahl von Polikliniken in Ost und West. Aber das strebe die Bundesregierung nicht an. Es müsse eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft geben.

Parlamentspräsident ermahnt Zwischenrufer

Bundestagspräsident Norbert Lammert mit strengem Blick auf seinem Stuhl im Plenarsaal (Foto: AP)
Norbert LammertBild: AP

Ihre Partei kämpfe für eine Gesellschaft, "die nicht profit- und angstgesteuert ist", rief Lötzsch unter dem Protest zahlreicher Abgeordneter anderer Fraktionen in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Die ständigen Zwischenrufe veranlassten den christdemokratischen Parlamentspräsident Norbert Lammert einzugreifen. Alle anderen Redner könnten ja zurückweisen, was von Frau Lötzsch vorgetragen werde. Aber sie dürfe das vortragen und darauf lege er "allergrößten Wert".

Unzufrieden mit der Entwicklung des vereinten Deutschlands zeigte sich auch die sozialdemokratische Abgeordnete Iris Gleicke aus Thüringen. Ostdeutschland sei zur verlängerten Werkbank des Westens geworden. Die zwangsläufige Folge sei eine katastrophale Massenarbeitslosigkeit mit verheerenden ökonomischen und seelischen Folgen für die Betroffenen. Die würden bis heute nachwirken, sagte Gleicke.

Licht und Schatten

Von Licht und Schatten im deutschen Vereinigungsprozess sprach der mit 31 Jahren jüngste Redner, Stephan Kühn. Der Sachse sitzt für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Das größte Entwicklungshemmnis für Ostdeutschland werde die anhaltende Abwanderung junger Menschen in den Westen sein. Die würden künftig als Unternehmensgründer fehlen. Wer den Wettbewerb um die klügsten Leute gewinnen will, "wird das nicht mit einem niedrigen Lohn-Niveau erreichen", prophezeite Kühn unter Hinweis auf die im Westen Deutschlands nach wie vor höheren Einkommen.

Kühns Parlamentarier-Kollege Patrick Kurth von den Freien Demokraten zog ein positives Fazit. Man habe Deutschland gemeinsam vereinigt und eine beachtliche Entwicklung hingelegt. "Das ist schön und bewegend", sagte der 34-jährige unter dem Beifall der meisten Abgeordneten. Die Ostdeutschen hätten ihr Leben völlig umgekrempelt, sagte der Thüringer. Sie hätten neue Sprachen gelernt und neue Berufe, seien Risiken eingegangen. Visionen für ein selbstbestimmtes, besseres Leben seien der Grund gewesen. "Und diese Haltung könnte auch heute Vorbild für unsere Gesellschaft sein", empfahl Kurth.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer am Rednerpult (Foto: AP)
Wolfgang BöhmerBild: AP

Opportunismus in Ost und West

Zum Auftakt der Debatte über 20 Jahre Deutsche Einheit hatte Wolfgang Böhmer gesprochen, der christdemokratische Ministerpräsident aus Sachsen-Anhalt. Er sei oft gefragt worden, warum es so viel Opportunismus in der DDR gegeben habe? Seine Antwort: In einer Diktatur resultiere angepasste Verhalten aus der Angst vor Nachteilen und einem Abstieg, in einer Wettbewerbs-Gesellschaft aus der Hoffnung auf Vorteile und einen Aufstieg. Das sei nicht das Gleiche, "aber ein vergleichbares menschliches Verhalten", sagte Böhmer.

Der Ministerpräsident forderte mehr gegenseitigen Respekt zwischen Ost und West. Man habe die Einheit gewollt und bekenne sich auch heute noch dazu, betonte er. Die Wiedervereinigung sei ein Wunder gewesen.

Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Kay-Alexander Scholz