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Legasthenie auf Chinesisch

Katrin Jäger9. Juli 2007

Lese- und Schreibschwächen bei Kindern sind in China genauso verbreitet wie in Ländern, in denen die lateinische Schrift benutzt wird. Diese Entdeckung wirft gängige Theorien zur Legasthenie über den Haufen.

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Schulkinder in Peking (Archivbild), Quelle: AP
Schulkinder in Peking (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa

Katrin Klingebiel hat eine kuriose Entdeckung gemacht. Die Psychologie-Studentin aus Wien stöberte in einem internationalen Internetforum zu ihrem Spezialthema Legasthenie, also Schreib- und Leseschwächen bei Kindern. Zufällig stieß sie auf mehrere Nachrichten von Eltern aus China, die um Hilfe aus dem Ausland baten. “Weil in China keinerlei Anlaufstellen waren", erklärt sie. "Die Kinder werden als dumm bezeichnet, als faul."

Vertuschen statt handeln

Das Thema Lese- und Schreibschwäche ist in China ein Tabu. Viele Eltern wollen es nicht wahr haben, wenn ihr Kind Schwierigkeiten hat, die komplizierten chinesischen Schriftzeichen schreiben oder lesen zu lernen. Eltern und Kinder versuchen, dieses Problem so gut es geht zu vertuschen.

Auch die meisten Lehrer in China wissen nichts über Legasthenie. Dabei beträgt die Quote der Schüler mit einer Lese- oder Schreibschwäche rund fünf Prozent und ist damit ähnlich hoch wie in Europa oder in den USA, sagt Brendan Weekes. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung, die der Neuropsychologe von der Universität Sussex kürzlich mit zehntausend Schulkindern in Peking durchgeführt hat.

Stille Schreibübungen

In Deutschland gillt LRS als Problem, in China als Schande, Quelle: dpa
In Deutschland gillt LRS als Problem, in China als SchandeBild: picture alliance/dpa

Der Wissenschaftler aus England war überrascht. Denn auch er war zunächst davon ausgegangen, dass Legasthenie in China nicht vorkommt. Allerdings aus einem anderen Grund als die Chinesen. Die Schüler dort lernen lesen und schreiben, indem sie sich visuell die bildhaften Schriftzeichen einprägen. Der Laut eines Wortes spielt dabei so gut wie keine Rolle. Doch die bisherigen Theorien zur Legasthenie gehen davon aus, dass die betroffenen Kindern Schwierigkeiten mit der Lautbildung haben, sagt Weekes. ”Eigentlich ist das ein phonologisches Problem. Aber wenn jemand Probleme hat, Laute zu bilden, dann hat dieser Mensch große Schwierigkeiten beim Lesenlernen.”

Warum auch Kinder in China unter Lese- und Schreibschwäche leiden, können die gängigen Theorien nicht erklären. Denn die Schülerinnen und Schülerin machen in der Schule in erster Linie stille Schreibübungen. Vielleicht muss hier eine neue Legasthenie-Theorie entwickelt werden, vermutet Klingebiel. Sie will sich in ihrer Diplomarbeit diesem Thema widmen. "Da muss man einfach noch mehr forschen, da fehlt einfach noch mehr Grundlagenforschung."

Kalligraphie und Computer

Wenn auch noch nicht genau klar ist, warum - dass es Legasthenie in China gibt, ist nicht mehr wegzudiskutieren. Der Sprachprofessor Hing Wang Gang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften reist derzeit durch das Land, um Eltern und Lehrer aufzuklären. Er stellt Diagnosen und versucht, den betroffenen Kindern zu helfen. Klingebiel begrüßt dieses Engagement, doch sie bezweifelt, ob alle Familien dafür offen sein werden. “Die Familien, die sich informieren, sind sehr gebildete Familien. Aber das ist natürlich auch nur ein kleiner Prozentsatz."

Weekes sieht eine Chance für die betroffenen Schülerinnen und Schüler im chinesischen Technologie-Boom. Der Neuropsychologe ist der Ansicht, dass die betroffenen Kinder mit Hilfe des Computers leichter schreiben und lesen lernen können. “Eine andere Möglichkeit wären Lernmethoden, die den Kindern Spaß beim Lernen vermitteln. Man könnte Kalligraphie einführen, anstatt die Zeichen nur abschreiben zu lassen", schlägt er vor.

Der Wissenschaftler hofft, die chinesischen Lehrer davon überzeugen zu können. Denn mit ihrer Unterstützung sei es möglich, die betroffenen Kinder zu unterstützen. Hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft könnten diese Schülerinnen und Schüler von neuen Unterrichtsmethoden profitieren.