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Lehren für die Krisenregion Ostasien

Mathias Bölinger11. April 2014

Droht ein neues 1914 im Fernen Osten? Australiens Ex-Premier Kevin Rudd sagt, wer die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehe, könne eine Eskalation in Asien verhindern.

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China Marineübung im Ostchinesischen Meer
Bild: REUTERS

Irgendwann in den sechziger Jahren entdeckte ein Junge beim Spielen im Park kleine Plaketten an den Bäumen. Der Junge wohnte im Dorf Eumundi irgendwo im tiefsten australischen Hinterland, einem Örtchen mit 162 Einwohnern. Die Plaketten an den Bäumen trugen die Namen von Gefallenen. Es waren junge Männer, die ihr Leben auf den europäischen Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs gelassen hatten - mehr als zwanzigtausend Kilometer entfernt. Der Junge von damals heißt Kevin Rudd und war inzwischen zweimal Premierminister von Australien. Damals, sagt er, habe er begonnen, das Ausmaß des Ersten Weltkriegs zu verstehen. Er erzählt diese Geschichte im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Rudd, der als ausgewiesener Ostasienkenner gilt, spricht in Berlin über die Frage, ob sich Geschichte wiederholt.

Versagen der Diplomatie vor 100 Jahren

Ein wenig wurde das Programm von den aktuellen Ereignissen im Osten Europas überrannt. Das Auswärtige Amt und das Deutsche Historische Museum gehen in einer gemeinsamen Vortragsreihe zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs dem Versagen der Diplomatie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach. Und Rudds Thema sind Parallelen zwischen der Lage in Ostasien heute und in Europa vor 100 Jahren. Denn, so mag es bei der Planung der Veranstaltung noch ausgesehen haben, wenn sich irgendwo auf der Welt ähnliches abspielen sollte wie vor dem Ersten Weltkrieg, dann sicherlich nicht im befriedeten Europa, sondern in Ostasien, wo Nationalismus, militärische Konkurrenz und unbewältigte Vergangenheit immer wieder aufeinanderprallen.

Australiens Ex-Premier Kevin Rudd (Foto: Reuters)
Australiens Ex-Premier Kevin RuddBild: Reuters

Das Programm wurde vor den Ereignissen in der Ukraine geplant. Sollte Rudd in seinem Manuskript jemals den Satz stehen gehabt haben, auf dem europäischen Kontinent sei nach dem Ende des Kalten Krieges nichts anderes als Kooperation denkbar, so hat er ihn wohl inzwischen gestrichen.

Verstörende Bilder von jubelnden Massen

Trotzdem hält der Redner an seiner These fest, dass sich ein diplomatisches Versagen wie 1914 heute am ehesten in Asien wiederholen würde. Denn an der Zuspitzung im Ostchinesischen Meer hat die Ukraine-Krise nichts geändert. Henry Kissinger hat in seinem Buch "Über China" davor gewarnt. Kevin Rudd selbst hat in einem viel beachteten Artikel für "Foreign Affairs" darüber geschrieben. Allerdings warnte deutsche Außenminister Frank-Walter-Steinmeier als Gastgeber dieser weltumspannenden Geschichtsstunde davor, allzu voreilige Schlüsse zu ziehen: "Fragen zu stellen und Parallelen aufzuzeigen bedeutet nicht, Analogien zu zimmern", so Steinmeier.

Parallelen zwischen Europa 1914 und Ostasien 2014 sieht Rudd unter anderem in einem unübersichtlichen System von Allianzen und umstrittenen Gebietsansprüchen. In den Staaten Ostasiens dominierten nationalistische Stimmungen die Politik, auch das erinnere an das Europa des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, sagt Rudd: "Einige der verstörendsten Bilder des ersten Weltkriegs sind die Fotos von den jubelnden Massen, die in Berlin, London, Wien, Paris und sogar Sydney auf die Plätze strömten, als der Krieg endlich erklärt wurde."

Aufstieg Deutschlands damals und Chinas heute

Es sei eine Lehre der Geschichte, dass eine Situation, die viele Jahre als völlig unbedrohlich erschienen sei, plötzlich in eine Katastrophe umschlagen könne. Rudd zitiert einen seiner Amtsvorgänger als australischer Premierminister, George Reid, der wenigen Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland kam und vor dem Reichstag sprach. Die deutsche Nation habe den Weg an die Spitze der Weltmächte friedlich bewältigt, lobte er. "Der Geschmack an aggressiver Kriegsführung, einst die vorherrschende Mode überall, steht jedem modernen Gefühl entgegen", rief er den deutschen Abgeordneten zu - zwei Jahre vor Beginn der Katastrophe.

Philippinischer Demonstrant verbrennt chinesische Flagge (Foto: EPA)
Nationalistische Emotionen aufgrund von Gebietsstreitigkeiten zwischen China und den PhilippinenBild: picture-alliance/dpa

Ähnlich wie damals Deutschland in Europa steigt in Asien heute China zur dominanten und selbstbewussten Macht auf. "Jeder, der glaubt, der Aufstieg Chinas werde ohne Auswirkungen auf die derzeitige Weltordnung, die auf klaren Regeln beruht, vonstatten gehen, ist ein schlechter Student der Geschichte", sagte Rudd.

Die Welt müsse sich also darauf einstellen, dass in den nächsten Jahren noch viele sicherheitspolitische Herausforderungen in Asien entstehen. Der Wettbewerb zwischen China und den USA um die Vorherrschaft in der Region und die nationalistisch aufgeheizte Konfrontation zwischen Japan und China sowie die unkontrollierte Waffenverbreitung unter anderem in das unberechenbare Nordkorea blieben eine große Bedrohung in einer Region, die "wenig Erfahrung mit Krisenmanagement und der Eindämmung von Krisen" habe, warnt Rudd.

Asien braucht Sicherheitsstrukturen

Nun komme es daher darauf an, die asiatischen Staaten auch mit den Lektionen vertraut zu machen, die Europa aus den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts gelernt hat. Die wichtigste von ihnen sei, dass es Organisationen brauche, um im Krisenfall verhandeln zu können. Die Anfänge der Europäischen Union in den fünfziger Jahren, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in den siebziger Jahren die Blöcke im Kalten Krieg zusammenbrachte, könnten wichtige Vorbilder für Asien sein, wo es keine vergleichbaren Organisationen gibt, glaubt Rudd:

Nordkorea Soldaten auf Militärbasis (Foto: AFP/Getty Images)
Nordkorea ist einer von vielen UnsicherheitsfaktorenBild: PEDRO UGARTE/AFP/Getty Images

"Es geht darum, Institutionen aufzubauen, die die Gepflogenheiten und die Kultur einer gemeinsamen Sicherheit begründen, anstatt darauf zu vertrauen, dass diese Gepflogenheiten von selbst entstehen." Denn Geschichte wiederhole sich nicht automatisch, noch folge sie zwangsläufigen Entwicklungen, betont er. "Diplomatie und Politik sind entscheidend. Es sind Individuen, die die Geschichte formen."