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Politik

Die Mär vom Lehrkräftemangel

10. September 2019

Das Mantra vom Lehrermangel in Deutschland versperrt den Blick auf ein anderes Problem: Tausende Gymnasiallehrer haben nach dem Referendariat keine Chance auf eine Stelle. Ihre Arbeitsplätze sind auf Jahrzehnte belegt.

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Symbolbild - Lehrer vor Schulklasse
Bild: picture-alliance/dpa/J. Wagemann

Der Schweinezyklus ist mitschuld daran, dass immer wieder die gleiche Sau durchs Dorf getrieben wird. Gemeint ist der Lehrermangel. Gerade erst hat die Bertelsmann-Stiftung noch einmal mit einer Studie nachgelegt: "Lehrkräftemangel deutlich stärker als von der Kultusministerkonferenz erwartet."

Richtig ist, dass fast alle Bundesländer kleinere oder größere Probleme haben, ihre Stellen an Grund- und Primarschulen sowie Haupt-, Real- und Sonderschulen zu besetzen. Auch an Berufsschulen bewerben sich nur in einzelnen Bundesländern genügend Lehrkräfte. Besonders schlimm ist es in der Bundeshauptstadt Berlin. Zwischen 34 und 72 Prozent Quereinsteiger stellen Schulen in den verschiedenen Stadtbezirken an Grundschulen ein. Einige von ihnen, berichtet der "Tagesspiegel", hätten nicht einmal Abitur.

Dem eklatanten Mangel an Grundschullehrern in fast allen Bundesländern steht allerdings ein ebenso großes Überangebot an Gymnasiallehrern entgegen. Die Kultusministerkonferenz - jenes ständig tagende Gremium, in dem sich die für Bildungspolitik zuständigen Länderministerien unter anderem über den Lehrkräftebedarf austauschen - prognostiziert in ihrer aktuellsten Schätzung, dass sich für das gerade beginnende Schuljahr 2019/2020 bundesweit mehr als 4560 Gymnasiallehrer zu viel bewerben. Zum Vergleich: Der Mangel an Grund- und Primarschulen ließe nach derselben Schätzung "nur" 3220 Stellen offen. 

Eine Frage des Faches

Am größten ist der Überhang - gemessen an der Bevölkerungszahl - in Baden-Württemberg: Auf 1000 Stellen an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen bewarben sich sich 3131 ausgebildete Lehrer, wie der Landesverband der Lehrergewerkschaft GEW (GEW-BW) im Sommer mitteilte.

Fast nur Lehrerinnen an Grundschulen
An deutschen Grund- und Primarschulen fehlen laut Lehrergewerkschaft in diesem Schuljahr 3220 LehrkräfteBild: picture-alliance/dpa/J. Stratenschulte

Dabei sind die Chancen sehr unterschiedlich verteilt: Als Naturwissenschaftler hat man nämlich exzellente Aussichten, an einem baden-württembergischen Gymnasium verbeamtet zu werden. An den Gemeinschaftsschulen, schreibt die GEW-BW, hätten rund 40 Prozent der Stellen nicht besetzt werden können, weil es vor allem für Mathematik und in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) nicht genug Bewerbungen gegeben habe. Für Sprachenlehrer dagegen tendieren die Chancen gegen null. Allein 1000 Deutschlehrer haben sich diesen Sommer an Gymnasien in Baden-Württemberg beworben.

Gymnasiallehrer an Grundschulen

Diejenigen, die keine Beamtenstelle bekommen, haben verschiedene Optionen: Sie können es in einem anderen Bundesland versuchen, mit mäßigen Aussichten, denn nur in Hamburg und Sachsen-Anhalt fehlen ein paar Gymnasiallehrer - aber auch nicht unbedingt für Deutsch und Englisch.

Sie können auch Kollegen vertreten, die zum Beispiel krank oder in Elternzeit sind. Dann erhalten sie einen Arbeitsvertrag, der vom ersten bis zum letzten Tag des Schuljahrs reicht. Im Sommer sind sie dann sechseinhalb Wochen arbeitslos. Arbeitslosengeld erhalten sie aber frühestens im zweiten Sommer, weil man dafür in zwölf der zurückliegenden 24 Monate gearbeitet haben muss. Die vielleicht naheliegendste Möglichkeit ist, an einer anderen Schulform zu unterrichten, wenngleich Lehrer dort teilweise fachfremd eingesetzt werden.

Die fatale Zyklik der Arbeitsmärkte

Nun mag man sich fragen, warum das Thema Lehrermangel solch ein Dauerbrenner ist. Schließlich heißt es oft, dass der Markt für Lehrkräfte dem sogenannten "Schweinezyklus" unterliege. Der Begriff drückt keineswegs eine Geringschätzung gegenüber Pädagogen aus. Er hat sich etabliert, weil der deutsche Ökonom Arthur Hanau das Phänomen 1927 anhand der historischen Preise von Schweinen beschrieb: Bei herrschendem Unterangebot stieg der Preis und infolgedessen auch die Investitionen in die Schweinezucht. Die führten dann - eine Schweinegeneration später - zu einem Überangebot, fallenden Preisen und sinkenden Investitionen. Eine weitere Generation später herrschte dann wieder Knappheit.

Berufsschule
Viele der 4560 überzähligen Gymnasiallehrer finden eine Stelle an einer BerufsschuleBild: picture-alliance/dpa/D.Bockwoldt

Müsste das Problem Lehrermangel dann nicht innerhalb einer Ausbildungsgeneration gelöst sein? Schließlich kann man die Ausbildung zum Lehrer - je nach Schulart - in sieben bis neun Jahren absolvieren. Zudem landet der Berufswunsch Lehrer(in) in Umfragen unter Jugendlichen regelmäßig unter den Top 10 - bei Mädchen sogar den Top 5. Tatsächlich aber prognostizieren Bertelsmann-Stiftung und KMK nur eine graduelle Verbesserung der Situation bis Mitte der 2020er-Jahre. Lehrermangel an Grundschulen werde aber auch dann noch herrschen.

Lehrer sind keine Schweine

Das Problem ist offensichtlich: Lehrer sind eben keine Schweine und lassen sich nicht nach Bedarf heranzüchten. Die Berufswahl in Deutschland ist nach Artikel 12 des Grundgesetzes frei. So attraktiv eine Beamtenstelle am Gymnasium - mit gutem Gehalt, lebenslanger Jobgarantie, interessanten Unterrichtsinhalten und vermeintlich gesitteten Jugendlichen - auf Abiturienten wirkt, so abschreckend scheint die Vorstellung zu sein, sich mit Kleinkindern und womöglich sogar Problem-Teenagern herumschlagen zu müssen - und das für ein spürbar geringeres Einkommen.

Der Schweinezyklus funktioniert am Pädagogenmarkt auch deshalb nicht, weil sich die Preise nicht so dynamisch verändern wie an der Fleischbörse. Ökonomen sagen da schulterzuckend: Preisbindung führt eben zu Fehlallokation. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe fordert angesichts der Situation, die Grundschulgehälter in allen Bundesländern dem Gymnasialniveau anzupassen.

Dass die Kultusministerien ihre Angebote an dieser Stelle nachbessern müssen, zeigt auch ein Versuch des Kultusministeriums von Baden-Württemberg: Seit 2017 will man dort übrig gebliebene Gymnasiallehrer mit der Aussicht auf Verbeamtung an Grundschulen locken. Dafür müssen sie allerdings eine Zusatzausbildung absolvieren und Gehaltseinbußen gegenüber dem Gymnasialdienst hinnehmen. Die Resonanz war laut GEW gering.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.