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Åsne Seierstad im Kopf eines Mörders

Ulrike Sommer
14. März 2018

Warum radikalisieren sich Menschen? Åsne Seierstad schreibt über den Massenmörder Breivik und Islamistinnen, die vom Dschihad träumen. Das Urteilen überlasse sie aber den Lesern, sagt sie im DW-Interview.

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Journalistin und Autorin Åsne Seierstad
Åsne SeierstadBild: picture-alliance/Leemage/Effigie

Åsne Seierstad ist Schriftstellerin und Journalistin. Viele Jahre war sie Auslandskorrespondentin für das norwegische Fernsehen und berichtete aus Krisenregionen und Kriegsgebieten. Für ihren dokumentarischen Roman "Einer von uns", in dem sie die Tat des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik minutiös rekonstruiert, ist die 48-jährige Norwegerin am Mittwoch (14. März) mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet worden. Breivik hatte am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya und durch einen Bombenanschlag im Zentrum von Oslo 77 Menschen getötet.

Deutsche Welle: Sie sollten ursprünglich nur einen Artikel zum Prozessauftakt gegen Anders Behring Breivik für das Magazin "Newsweek" schreiben. Wie wurde daraus ein Buch mit mehr als 500 Seiten?

Åsne Seierstad: Ich war schockiert, als der Anschlag geschah, aber ich hatte nie das Gefühl, das sei meine Geschichte. Ich habe nie über Norwegen geschrieben, immer über Krieg und Konflikte im Ausland. Als Breivik am ersten Prozesstag den Saal betrat, spürte man die Kälte, die er ausstrahlt. Ich fühlte mich unwohl. Der Saal, in dem die Eltern der Opfer, Journalisten und Anwälte saßen, war voller widersprüchlicher Emotionen. Es war wie ein Sog. Nach ein paar Tagen war klar: Diese Geschichte muss ich aufarbeiten, denn das ist unsere Tragödie. Das ist eine Geschichte über uns, über Norwegen.

Cover des Buches "Einer von uns" von Åsne Seierstad (© Kein & Aber Verlag)
Cover des Buches "Einer von uns" von Åsne Seierstad

Ihr Buch trägt den Titel "Einer von uns". Und in der Tat, Anders Behring Breivik, der nach einem eiskalt kalkulierten Plan 77 Menschen getötet hat, hat eine Zeit lang ganz in der Nähe von ihrem Haus gelebt, in einer gutbürgerlichen Gegend.

Ganz genau. Er war mein Nachbar. Er hätte jedermanns Nachbar sein können. Ich habe den Titel "Einer von uns" gewählt, weil er aus dieser Gesellschaft kommt. Oberflächlich betrachtet war er ein ganz normaler Mensch. Er durchlief dasselbe Schulsystem, las die gleichen Zeitungen, ging in dieselben Geschäfte. Was hat ihn zu diesem Krieger gemacht, der glaubte, dass dieses Land islamisiert wird, dass es Opfer einer Verschwörung ist, bei der Norwegen, Europa an die Muslime verraten wird? Er kommt aus dieser Gesellschaft, aber ich überlasse es dem Leser zu entscheiden, ob er noch immer einer von uns ist.

Sie haben zehn Wochen den Prozess begleitet, die Polizeiakten studiert, die psychiatrischen Gutachten gelesen, seine gesamte Kindheit und Jugend aufgearbeitet. Was für ein Bild hat sich ergeben?

Breivik ist ein sehr verlorenes Individuum. Er ist grausam und gleichzeitig erbärmlich. Für mich war es wichtig, im Buch selbst nie Adjektive zu benutzen, auch nicht den Begriff "böse". Ich gebe nur wieder, was er getan hat, was er gedacht hat, wie er sich ausgerechnet hat, wie viele Menschen er töten muss, um berühmt zu werden. Ich benutze nur seine eigenen Worte. Ich urteile nicht über ihn. Das ist die Aufgabe des Lesers. 

Ihr Buch rekonstruiert nicht nur die Tat und die Biografie Breiviks, erzählt wie aus dem Sohn eines Diplomaten ein Massenmörder wurde, sondern es verwebt das Geschehen auch mit den Lebensläufen der Opfer, der Jugendlichen, die getötet wurden, weil sie der Arbeiterpartei angehörten, die Breivik hasste.

Norwegen / Insel Utoya / Utøya / Anschlag / NO FLASH
Die Insel Utøya in Norwegen: Hier kamen bei den Anschlägen 69 Menschen umBild: AP

Weil es sich um einen politischen Terrorakt handelt, musste ich auch das politische Erwachen der Opfer schildern. Warum wollten sie Norwegen, die Welt ändern? Ihre Biografien aufzuschreiben war sehr schwierig. Sie waren klug und erfolgreich, sie waren Führungspersönlichkeiten. Bei ihnen schien alles perfekt zu sein. Wie konnte ich ihnen gerecht werden? Ich habe dafür sehr viel Zeit mit ihren Freunden und Familien verbracht, um sie kennenzulernen, nachdem sie getötet wurden. Diese Teenager werden immer Teil meines Lebens sein.

Der Terroranschlag ist nun sieben Jahre her. Hat sich Norwegen, diese sehr offene und liberale Gesellschaft, dadurch verändert?

Ehrlich gesagt: nicht wirklich. Natürlich war es ein Schock, das Gefühl, dass auch wir von so einem Anschlag getroffen werden können. Aber Norwegen ist ein sehr geerdetes Land. Es braucht mehr als sowas, um die Gesellschaft zu verändern.

Ihr zuletzt in Deutschland erschienenes Buch "Zwei Schwestern: Im Bann des Dschihad" ist wieder eine literarische Reportage - und handelt von zwei norwegisch-somalischen Mädchen, die 2013 nach Syrien gehen, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen. Erneut ist es die Geschichte einer Radikalisierung. Gibt es Parallelen zu Breivik?

Da sind viele Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen gibt es das Gefühl, unterdrückt zu sein. Die Mädchen fragen: Warum dürfen wir in Norwegen nicht radikale Muslime sein? Warum dürfen wir uns in der Schule nicht verschleiern? Und Breivik denkt, dass er gegenüber den Immigranten, die nach Norwegen kommen, benachteiligt wird. Dass Europa islamisiert wird, und dass er als weißer Mann unterdrückt wird. Es ist das Gefühl, zum Opfer zu werden, das eine große Rolle spielt, das Gefühl der Demütigung und Benachteiligung und das Verlangen, zurückzuschlagen.

Und in beiden Fällen richtet sich die Gewalt gegen die liberale und tolerante Gesellschaft - gegen Europa.

Sowohl Breivik als auch die zwei Schwestern lehnen Europa und seine Werte ab und greifen sie an. Ich denke, es ist wichtig zu begreifen, warum Europa angegriffen wird. Die meisten Europäer sind davon überzeugt, dass wir die besten Regierungen haben. Natürlich gibt es Misserfolge und Skandale. Aber wenn wir es mit Abstand betrachten, haben wir ein perfektes System: Demokratie, Liberalität. Werte wie Verständnis, Toleranz, Gerechtigkeit und Respekt - im Unterschied zu vielen Ländern der Welt, wo es Polizeistaaten und politische Gefangene gibt. Europa hat wahrscheinlich das beste Regierungssystem. Aber wie kommt es, dass so viele junge Menschen das ablehnen und angreifen, mit dieser Idee der "Reinigung"? Sowohl im islamistischen als auch im rechtsextremen Faschismus geht es immer darum, das eine oder andere auszumerzen, um zu einem perfekten System zu gelangen. Aber Europa ist ein Mix, es wird niemals "rein", nie etwas Einheitliches sein. Wir müssen herausfinden, warum Europa von diesen beiden Seiten aus angegriffen wird.

Das Gespräch führte Ulrike Sommer.