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Lektüre-Multitasking

24. November 2008

Über Buchgeschenke, den Frühjahrsputz im Bücherregal oder über Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm, Programm-Leiter des Kölner Literaturhauses, regelmäßig Kolumnen rund ums Lesen.

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Symbolfoto: aufgeschlagenes Buch mit Gabel (Foto: DW)
BuchmanierenBild: DW

Der Soziologe Niklas Luhmann, der Begründer der Systemtheorie, soll, wenn er beim Schreiben eines Buches nicht weiterkam, einfach an einem anderen weitergeschrieben haben. Angeblich machen viele Menschen, die versuchen Luhmanns Bücher zu lesen, das gleiche: sie lesen, wenn sie in seinen Gedankensystemen stecken bleiben, einfach ein anderes Buch. Das ganze geht bei vielen Lesern natürlich auch ohne System und Theorie – sie lesen gewohnheitsmäßig mehrere Bücher gleichzeitig, die meist bestimmten Situationen und Konzentrationsgraden zugeordnet sind: im Bett etwas anderes als auf der Toilette, im Lesesessel etwas anderes als im Straßenbahngedränge.

Verändert sich das Weltbild?

Meines Wissens gibt es noch keine Untersuchung darüber, was das Mehrere-Bücher-Gleichzeitig-Lesen, also das "Lektüre-Multitasking", bewirkt. Das wäre doch mal ein Anwendungsgebiet für die Hirnscanner der Neurophysiologie: Was passiert mit Gehirnzellen, die beständig zwischen Luhmann, Herrn Lehmann, Herman Melville und Flann O’Brien hin und herwechseln? Arbeiten sie besser, bilden immer neue Synapsen oder fangen sie an, seltsam zu flirren? Und wie verändert sich das Weltbild durch Lektüre-Multitasking? Wird es zerstückelter, komplexer oder klarer?

Verändert sich das Buch?

Thomas Böhm Programmleiter des Kölner Literaturhauses
Thomas Böhm Programmleiter des Kölner LiteraturhausesBild: birgit rautenberg

Was passiert, wenn ein Autor zu viele Bücher gleichzeitig schreibt, hat der irische Schriftsteller Flann O’Brien in seinem Roman "In Schwimmen Zwei Vögel" gezeigt. Darin schreibt ein Autor einen Western, eine Lovestory, einen Roman über einen Sagenkönig, eine Gangstergeschichte usw. Immer wenn er die Lust an einem Text verliert, schreibt er etwas anderes. Bis es den Figuren zu bunt wird, sie ihre Geschichten verlassen, in die anderen gehen - zum Beispiel der Sagenkönig in den Western - um die dortigen Helden abzuholen und schließlich beim Autor vorstellig zu werden und sich zu beschweren. Wie die Sache ausgeht, kann ich noch nicht sagen. Mir ist ein anderes Buch dazwischengekommen. Eines mit Redensarten aus aller Welt. Darin fand ich ein finnisches Sprichwort zum Thema Multitasking. Es lautet übersetzt: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.