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Lettland zäunt sich ein

Toms Ancitis24. September 2015

In Lettland gibt es kaum Flüchtlinge. Doch einige Hundert illegal eingereiste Menschen aus Vietnam werden zum Problem erklärt. Ein Zaun an der Grenze soll weitere Migranten aufhalten.

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Ansicht der lettischen Hauptstadt Riga (Foto: Picture Alliance)
Die lettische Hauptstadt RigaBild: picture alliance/Bildagentur-online

Cao Viet Nguyen, ein gebürtiger Vietnamese, lebt seit zehn Jahren als Künstler und Comic-Zeichner in der lettischen Hauptstadt Riga. Aus seiner Feder stammen unter anderem die Illustrationen im lettischen Nationalepos "Lāčplēsis". Doch in den vergangenen Monaten hat er kaum mehr Zeit zum Zeichnen: Zu seinem Alltag gehören jetzt Asylanträge, Gerichtsprozesse und Verhöre. Der junge Vietnamese pendelt ständig zwischen Riga und Lettlands Grenzstädten, um im Auftrag der lettischen Behörden für seine Landsleute zu übersetzen.

Denn in Lettland gibt es nach Angaben der Behörden immer mehr Vietnamesen, die illegal die Grenze überqueren. Aus dem mehr als 11.000 Kilometer entfernten Vietnam kommen sie über Russland nach Europa. Nachdem sie zu Fuß die lettische Grenze passiert haben, werden sie häufig vom Grenzschutz aufgegriffen. Dann stellen viele von ihnen Asylanträge im EU-Staat Lettland. Doch weil Vietnam als sicheres Herkunftsland gilt, werden fast alle Anträge abgelehnt.

In diesem Jahr wurden bislang über 300 illegal eingereiste Einwanderer aus Vietnam aufgegriffen: Das ist im Vergleich zu den Flüchtlingszahlen in anderen EU-Staaten sehr wenig. Trotzdem werden diese Migranten in Lettland innenpolitisch als ernstes Problem dargestellt.

Der Künstler Cao Viet Nguyen aus Vietnam, der in Lettland lebt (Foto: privat)
Künstler Cao Viet Nguyen lebt schon lange in RigaBild: T. Ancitis

Keine Erfahrung mit Einwanderung

"Noch vor einigen Jahren gab es überhaupt keine illegalen Einwanderer aus Vietnam. Deshalb ist die ganze Situation neu für uns", sagt Mariks Petrusins, ein Vertreter des Grenzschutzes in Lettland. Diese Vietnamesen kämen mit Hilfe organisierter Schlepperbanden nach Lettland, zu denen sowohl russische als auch lettische Staatsbürger zählten.

"Allerdings ist Lettland für die Vietnamesen nur ein Transitland", meint Cao Viet Nguyen. Sie würden meistens weiter nach Polen oder Deutschland reisen - weil es dort größere vietnamesische Communities gebe. "Die meisten der Einwanderer stammen aus ländlichen Gebieten. Um die Schlepper bezahlen zu können, haben sie Kredite aufgenommen und ihre Häuser verpfändet", sagt der gebürtige Vietnamese.

Bei der Unterbringung gibt es schon Engpässe: Das einzigen Flüchtlingsaufnahmelager in Lettland bietet nur etwa 100 Plätze. "Für die Bürger der europäischen Länder, die zurzeit große Flüchtlingsströme erleben, wirken die Zahlen in Lettland keinesfalls problematisch. Für die Letten ist es aber anders", erklärt der lettische Journalist Maris Zanders: "Wir haben sehr lange mit dem Gedanken gelebt, dass wir weit weg von den Migrationsrouten wohnen und der Grenzschutz deswegen nur eine Formalität ist. Die Infrastruktur ist vielleicht für 50 Asylbewerber geeignet. Wenn stattdessen 300 Leute kommen, führt das hier schon zu leichter Panik."

Wochenlang diskutierte die Regierung in Riga, ob das Land bereit sei, 776 Asylbewerber, die laut Verteilungsschlüssel der EU-Kommission vorgesehen sind, von anderen EU-Mitgliedsstaaten zu übernehmen. In der lettischen Gesellschaft dominiert eine negative Haltung gegenüber den Flüchtlingen. Die lettische Soziologin Aija Lulle spricht von einer gewissen "Opfermentalität" ihrer Landsleute. Sie erinnert daran, dass während der Sowjetzeit Hunderttausende russischsprachige Einwanderer aus anderen Gegenden der Sowjetunion gekommen sind, ohne dass die lettische Bevölkerung selbst die Möglichkeit hatte, diese Migrationsprozesse zu kontrollieren. Außerdem gibt sie zu bedenken, dass Einwanderer aus Afrika oder dem Nahen Osten in Lettland zurzeit nur aus Fernsehsendungen bekannt sind.

Grenzzaun zu Russland

Gleichzeitig wollen Lettland und Estland ihre Außengrenzen zu Russland sichern. Unter anderem ist der Bau eines Zauns von etwa 90 Kilometern an der insgesamt 270 Kilometer langen lettisch-russischen Grenze geplant. Auch das benachbarte Estland will seine östliche Grenze mit modernen Überwachungssystemen und einem neuen Zaun ausrüsten.

Der lettische Innenminister Rihards Kozlovskis betonte, die Sicherung der Grenze werde die unerlaubte Immigration eindämmen. Nach Angaben des lettischen Grenzschutzes war eine bessere Sicherung der Grenze schon seit mehreren Jahren geplant - weil sie zugleich auch eine EU- und NATO-Außengrenze ist.

Gerade vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise warnte Anfang 2015 der damalige lettische Verteidigungsminister Raimonds Vejonis, dass die Infrastruktur an der Grenze in einem katastrophalen Zustand sei. Ähnlich wie in der Ukraine könne es sogenannten "grünen Männchen" gelingen, von Russland aus unbemerkt nach Lettland einzureisen.

Der nur sechs Meter breite Grenzstreifen führt durch Wälder und Sümpfe. Kürzlich haben ihn lettische Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gleich mehrfach heimlich überquert - und das Ganze gefilmt. Deswegen nehmen sie an, dass das reale Ausmaß der illegalen Einwanderung größer sein könnte, als bisher bekannt. Ob der geplante Zaun mit Kameras und Sensoren Migranten tatsächlich davon abhält, die lettische Grenze zu überqueren, ist noch nicht absehbar.