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Konfessionalismus

26. April 2010

Über 3000 Libanesen haben am Wochenende in Beirut gegen den Einfluss der Religionen auf Politik und Alltag protestiert, er gilt als ein wesentliches Hindernis für dauerhaften inneren Frieden und Reformen in dem Land.

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Proteste in Beirut gegen Sektierertum und religiösen Einfluss auf die Politik, Foto: ap
Religiöser Einfluß als Gefahr? - Die Libanesen protestierenBild: AP

"Welche Religion hast Du?" – "Das geht dich nichts an!", skandieren die Demonstranten. Rund 3000 haben sich im Zentrum Beiruts an einer Kundgebung für Säkularismus und eine Reform des konfessionellen Systems beteiligt – eine Premiere in der libanesischen Hauptstadt. Es sind vor allem junge Menschen, Intellektuelle und Künstler. "Wir machen deutlich, dass es eine neue Generation gibt, die andere Werte hat, als nur religiöse Besitzstände zu verteidigen", sagt der 29-jährige Schauspieler Aurelien Zouki. Man wolle nicht die Macht der eigenen Konfessionsgemeinschaft wahren, sondern über einen gemeinsamen Libanon nachdenken.

Demonstrant in Beirut, Foto: Birgit Kaspar
"Konfessionalismus ist Teufelzeug! Weg damit!", fordert dieser DemonstrantBild: Birgit Kaspar

Viele der rund vier Millionen Libanesen schimpfen über den Konfessionalismus. Doch in der Regel definieren sie sich gleichzeitig vor allem über ihre Religionszugehörigkeit. Anerkannt sind 18 verschiedene Konfessionen, 15 verschiedene religiöse Gerichte regeln das Familienrecht. Eine Zivilehe gibt es ebenso wenig wie eine staatliche Regelung des Erbrechtes. Das verschärft die soziale Trennung zwischen den Religionsgemeinschaften.

Doch jeder Versuch, dies zu ändern, wird von den religiösen Institutionen – egal ob christlich oder muslimisch – abgeblockt. Verwunderlich sei das nicht, meint Paul Salem von der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden in Beirut: "Das ist eine ihrer letzten Machtbastionen und es ist eine wichtige." Immerhin berühre das Familienrecht jeden Einzelnen in jeder Phase seines Lebens.


Komplexes System

Darüber hinaus reicht der lange Arm der religiösen Institutionen bis hinein in die hohe Politik: Politische Statements in den Freitagspredigten der Moscheen gehören ebenso zur Tagesordnung wie eine wöchentliche Stellungnahme des maronitischen Patriarchen Nasrallah Sfeir zur aktuellen Politik. Sfeir versuche so eine Art geistiger Führer der Christen im Libanon zu sein, er gebe die grobe politische Richtung vor, erklärt Salem. "So ähnlich wie der schiitische Ayathollah Sistani im Irak, nicht direkt in die Politik involviert, aber sehr einflussreich." Ein anderes Modell der religiösen Einflussnahme bietet die Hisbollah: Parteichef Hassan Nasrallah trägt den religiösen Titel eines "Sayyed", er hat somit einen religiösen Status und ist gleichzeitig der mächtigste Politiker der Partei Gottes.

Paul Salem, Quelle: Carnegie Middle East Center
Paul Salem, Direktor des Carnegie Middle East CentersBild: Carnegie Endowment for International Peace

Die Lage im Libanon ist auch deshalb kompliziert, weil man sich 1943 im Nationalpakt auf ein konfessionelles Demokratiemodell geeinigt hat. Das heißt, alle politischen Posten in Beirut werden nach einem religiösen Schlüssel vergeben: So muss der Präsident immer ein Maronit sein, der Premierminister sunnitischer Moslem und das Parlamentspräsident Schiit. Die 128 Parlamentssitze sind 50:50 zwischen Christen und Moslems aufgeteilt und ein bestimmter Religionsproporz wird bei der Besetzung aller Posten im öffentlichen Dienst beachtet. Was beispielsweise dazu führen kann, dass eine Stelle monatelang unbesetzt bleibt, weil gerade kein qualifizierter Kandidat der richtigen Konfession zur Hand ist. Absurd findet das die pensionierte Lehrerin Aman Makouk: "Diese Position ist für einen Moslem, jene für einen Maroniten. Warum? Selbst in der Regierung. Warum sollte der Präsident Maronit sein? Er kann ebenso Moslem, Druse oder irgendjemand sein!"

Gerecht oder zu kompliziert?

Der Konfessionalismus wird für viele Probleme im Libanon verantwortlich gemacht. Er sorge aber auch dafür, dass sich niemand übergangen fühle, betont Salem von der Carnegie-Stiftung. Auch das könne für Unruhe sorgen. Er empfiehlt deshalb behutsame Reformen. Ein guter Start könnte eine Wahlrechtsreform sein, die mehr Proportionalität verspricht. Doch die wurde erst kürzlich, unmittelbar vor den geplanten Kommunalwahlen im Mai, wieder blockiert. Ein klassisches Problem bei einer regierenden Oligarchie von fünf oder sechs dominanten Politikern, so Salem. "Sie werden nicht freiwillig ihre Macht teilen oder das System in einer Form ändern, die sie schwächen würde."

Demonstrant in Beirut, Foto: Birgit Kaspar
Vor allem Jugendliche im Libanon protestieren gegen den KonfessionalismusBild: Birgit Kaspar

Obwohl sich in einer Umfrage jüngst mehr als 50 Prozent der Befragten gegen den Konfessionalismus aussprachen, sieht es nicht so aus, als könnte das verkrustete System bald aufgeweicht werden. Nur eine Avantgarde, so scheint es, wünscht sich tatsächlich, dass Religion Privatsache wird. Die meisten Leute haben einfach Angst vor dem Unbekannten. "Die Christen haben Angst, weil sie in einem moslemischen Nahen Osten leben. Die Schiiten haben Angst vor den Sunniten und umgekehrt. Und die Drusen haben Angst vor allen!" Jeder habe Angst, jeder fühle sich als Opfer und angesichts dieser Gemütslage sei es schwer, solch tief greifende Reformen voran zu bringen, so Salem. Doch das sollte die jungen Reformhungrigen im Zedernstaat nicht davon abhalten, den gesellschaftlichen Druck auf die Politik zu verstärken.


Autorin: Birgit Kaspar
Redaktion: Ina Rottscheidt