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Literarische Annäherung an die Diktatur

22. September 2010

Erinnerung – Memoria – ist eines der zentralen Themen, mit denen sich Ehrengast Argentinien bei der Frankfurter Buchmesse präsentieren wird. Es geht um die Erinnerung an die Schrecken der Militärdiktatur 1976 bis 1983.

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Ein Mitglied der 'Madres de la Plaza de Mayo' demonstriert im Dezember 2008 in Buenos Aires (Foto: AP)
Die "Mütter der Plaza de Mayo" halten die Erinnerung an die Opfer wachBild: AP

Juni 1978. Die Welt schaut nach Argentinien, wo die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Gleichzeitig lässt das Militärregime dort Oppositionelle verschwinden, foltert und tötet sie. Das Milieu, in dem diese Verbrechen begangen werden, beschreibt Martín Kohan in seinem Roman "Zweimal Juni" aus der Sicht eines jungen Wehrdienstleistenden. Vier Jahre später. Die argentinischen Streitkräfte führen Krieg auf den Falkland-Inseln, in Buenos Aires soll die junge Aufseherin María Teresa die Disziplin in einem Elite-Gymnasium überwachen – Stoff für Kohans gerade auf Deutsch erschienenes Buch "Sittenlehre".

Der Schriftsteller Martín Kohan (Foto: DW / Victoria Eglau)
Martín KohanBild: DW

"Als 1976 die Militärs putschten, war ich neun Jahre alt. Während des Falkland-Kriegs war ich fünfzehn, und ein Jahr später, 1983, endete die Diktatur", erinnert sich der heute 43-Jährige. "Als Kind war ich umgeben von einer bestimmten gesellschaftlichen Atmosphäre, es lag eine Art Unbehagen in der Luft." Aber daraus, sagt Kohan, sei für ihn kein scharfes Bild der politischen Situation entstanden. Seine Literatur nähre sich mehr aus seiner Wahrnehmung der Atmosphäre, als dass sie konkrete Ereignisse beschreibe, so Kohan. Er ist einer der argentinischen Schriftsteller, die sich in den letzten Jahren literarisch mit dem dunklen Kapitel der Diktatur beschäftigt haben.

"Die Diktatur ist unsere Shoah"

Patricia Kolesnikov, Feuilleton-Chefin der argentinischen Zeitung Clarín (Foto: DW / Victoria Eglau)
Patricia KolesnikovBild: DW

"Das Wort Memoria – Erinnerung – ist in unserem Land ein Synonym für Erinnerung an die Militärherrschaft", erklärt Patricia Kolesnikov, Feuilleton-Chefin der Tageszeitung Clarín. "Die Diktatur ist unsere Shoah", meint sie. Für die meisten Argentinier sei jene Zeit ein Teil ihres eigenen Lebens. Interessant findet Kolesnikov, dass in den letzten Jahren einige sehr junge Schriftsteller Bücher über die Diktatur geschrieben haben, die diese Zeit selbst nicht oder kaum erlebt haben. Einige dieser jungen Autoren verarbeiten jedoch persönliche Erfahrungen, die unmittelbar mit der Diktatur zusammenhängen. Felix Bruzzone, Verfasser des Kurzgeschichten-Bandes "1976", wurde im Jahr des Putsches geboren. Er ist Kind von Desaparecidos – Verschwundenen. Und die Eltern von Laura Alcoba, die den Roman "Das Kaninchenhaus" veröffentlichte, gehörten der verfolgten Guerrilla-Organisation Montoneros an.

Verschiedene Dimensionen der literarischen Erinnerung

Ein Plakat mit Bildern von Verschwundenen im Gerichtsgebäude von Comodoro Py, Provinz Buenos Aires (Foto: DW / Victoria Eglau)
30.000 Menschen sind während der Diktatur verschwunden.Bild: DW/ Victoria Eglau

Bücher über die Diktatur sind in Argentinien kein Phänomen der jüngsten Zeit. Bereits unter den Militärs hatten Schriftsteller verschlüsselt über die Zustände berichtet. Nach der Rückkehr zur Demokratie konnte dann unzensiert über den Staatsterrorismus, das Verschwindenlassen von schätzungsweise 30.000 Menschen und den Raub von rund 500 Babys geschrieben werden. Romanautor Kohan: "Zuerst wurde über die Erfahrungen der Opfer geschrieben. Über die Gesellschaft als Opfer, und über diejenigen, die direkt von den Verbrechen betroffen waren, sowie über die Angehörigen der Verschwundenen." Etwas später sei dann eine weitere Dimension der Erinnerung hinzugekommen, analysiert Kohan. Es erschien Literatur über die revolutionäre Bewegung der sechziger und siebziger Jahre, die dem Putsch voranging. Heute werfen Martín Kohan und andere Schriftsteller seiner Generation einen neuen, distanzierteren Blick auf die Geschehnisse, ihre literarische Herangehensweise ist indirekter. "Mir geht es nicht um eine Eins-zu-Eins-Übertragung von Erlebtem in Literatur. In meinen Romanen entferne ich mich von der dokumentarischen Dimension, vom Zeugenbericht", betont Kohan. Inzwischen sei auch eine Auseinandersetzung damit möglich, dass Argentiniens Gesellschaft nicht nur Opfer, sondern auch Komplizin der Diktatur gewesen sei, meint er.

Romane über Durchschnittsbürger

Buchcover Martín Kohan: Sittenlehre und Zweimal Juni (Suhrkamp)

So sind denn auch nicht Junta-Chef Jorge Videla und Co. die Protagonisten seiner Romane "Zweimal Juni" und "Sittenlehre", sondern zwei Durchschnittsbürger. Junge Argentinier, die weder Opfer noch Täter sind, die aber die ihnen zugewiesenen Aufgaben mit besonders viel Eifer, Gehorsam und Pflichtbewusstsein erfüllen. Sie hinterfragen nichts und fügen sich perfekt ins System ein. "Mich hat die Frage interessiert, wie das Grausame, das Abnorme, als Normalität gelebt werden kann. Wie das Grausame, Abnorme durch einen moralischen Diskurs gerechtfertigt werden kann", erklärt Kohan. Die politische Unterdrückungs-Maschinerie funktioniere nicht ohne kleine Zahnräder. "Es sind jene kleinen Zahnräder, die das Alltagsleben berühren." Martín Kohan ist kein Bestseller-Autor, aber seine Romane verkaufen sich gut in Argentinien. Es gibt ein Bedürfnis, die schmerzhafte Zeit der Diktatur zu verstehen – eine literarische Annäherung kann dabei helfen. Die verbrecherische Militärherrschaft ist für die Argentinier noch lange kein abgeschlossenes Kapitel. Videla wurde unlängst vor Gericht gestellt, auch anderen Verantwortlichen der Prozess gemacht. Die Suche nach den Verschwundenen geht weiter. Es wird also wohl noch lange über die Diktatur geschrieben werden.


Autorin: Victoria Eglau
Redaktion: Gabriela Schaaf

Martín Kohan:
Zweimal Juni. Suhrkamp Verlag. 181 Seiten. 19,80 Euro.
Sittenlehre. Suhrkamp Verlag. 247 Seiten. 19,90 Euro.