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Literatur live und online

26. März 2002

Bleiern und statisch ist Literatur in Printform - flüchtig und unstetig dagegen Geschriebenes im Internet. Ist Netzliteratur ein neues Genre? Die Herausgeber des Online-Projekts "Berliner Zimmer" sind sich dessen sicher.

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Nicht für die Ewigkeit: Dichtung Digital

Seit 1998 wollen Sabrina Ortmann und Enno E. Peter Literaten, Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern ein Forum im Netz schaffen. Ihre Site, die den Namen eines düsteren Raums mit Ausblick auf einen Berliner Hinterhof trägt, knüpft im Untertitel an die Tradition des literarischen Salons des 19. Jhd. an.

Wer per Mausklick ins Berliner Zimmer - den Salon im Netz - eintritt, stößt deshalb nicht auf durchdesignte Virtualität. Die Aufmachung ist schlicht und farblich im klassischen Bordeaux der Samtbezüge alter Canapés gehalten. Der Austausch über Bücher, das Knüpfen von Kontakten - all dies ist auch virtuell möglich. Chat, Forum, Mailinglisten und Newsletter sorgen für Interaktion. Doch nicht nur als ein Treff- und Orientierungspunkt in den unendlichen Weiten des World Wide Web ist der virtuelle Salon gedacht. In der Rubrik "Interaktiv" findet sich ein literarisches Online-Tagebuch, der lebendigste Bereich wie Sabrina Ortmann sagt.

Literarische Experimente im WWW

An dem Netzliteratur-Projekt tage-bau, das im November 1999 mit 12 Autoren startete, schreiben mittlerweile 50 registrierte Autoren mit. Zeitweise zu einem vorgegebenen Thema, meistens jedoch vollkommen frei, fantasieren, denken und träumen sowohl Amateure als auch professionelle Schreiber über die Tastatur. Und auch das Lächeln, Zwinkern und Schmunzeln der Leser, die das Geschriebene kommentieren, ist tastaturgeneriert.

Zu dem Thema "Mein Pixel-Ich" schrieben 25 Teilnehmer des Netzliteratur-Projekts von der Geburt der virtuellen Existenz über Liebe, Hass bis zu ihrem Tod. Die Beiträge reflektieren das Leben verschiedener Menschen unterschiedlichster Herkunft im Netz unter wechselnden Aspekten. Mit dem Preisgeld finanzierten die Herausgeber Ortmann und Peter eine Druckversion der Wettbewerbstexte und veröffentlichten damit das erste Netzliteraturprojekt in Buchform.

"Der längste Screenshot der Welt"

Die Print-Version von "Mein Pixel-Ich" zeigt jedoch, dass virtuelle Interaktivität nicht schwarz auf weiß abgebildet werden kann. Was für die einen ein Buch ist, ist für die anderen noch lange nicht der "längste Screenshot der Welt". Hyperstructures existieren nur im Netz. Weiterhin sind Farben, Schriftarten, Bilder, Illustrationen und Animationen verloren gegangen. Nicht dargestellt sind auch die von Emoticons wimmelnden Kommentare des Lesers/Autors - die Grenzen verwischen hier. Dass Netzliteratur nur im Netz funktioniert, ist nichts, was man den rührigen Herausgebern zuraunen müsste. Sie sind alte Hasen.

Netzliteratur oder Literatur im Netz ?

Sabrina Ortmann hat sich auch theoretisch mit der Netzliteratur befasst. Allgemeingültige Definitionen und Kriterien für das nunmehr 7 Jahre alte Genre gibt es nicht, sagt sie. In ihrem Buch „netz literatur projekt“ hat sie allerdings versucht, den Begriff einzugrenzen und gleichzeitig die Entwicklung einer neuen Literaturform nachgezeichnet.

Danach hat man es im Internet nur dann mit Netzliteratur zu tun, wenn Literatur, Technik, Interaktivität und Kommunikation miteinander in Beziehung gesetzt werden. Neztliteratur verdient ihren Namen nur dann, wenn sie eigens fürs Web entwickelt wurde. Weitere Kriterien sind Offenheit und permanente Veränderung. Der Prozess steht im Vordergrund und nicht das Ergebnis. Deshalb wird es den tage-bau auch weiterhin geben -ohne Printversion. Diese war sowieso nur als Bonbon für die Mitwirkenden des Wettbewerbs gedacht.

Über den Erfolg solcher durch und durch idealistischer Unternehmen entscheiden letztendlich die Clickraten: im Januar erzielten die Betreiber des Berliner Zimmers immerhin einen Besucherrekord von über 250.000 Pageviews (Seitenaufrufen). Gratulation!

Christine Gruler