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Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?

14. Oktober 2021

Dem russischen Konzern Gazprom wird vorgeworfen, die Energiekrise zu verschärfen, um grünes Licht für Nord Stream 2 zu erwirken. Aber Moskau hat offensichtlich ein weiteres strategisches Ziel.

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Russische Gas-Pipeline in Sibirien
Bild: Reuters/M. Shemetov

Zuerst sah es aus wie ein Werbefeldzug. "Jene in Europa, die einverstanden waren, mit uns Langfristverträge abzuschließen, können sich jetzt die Hände reiben und jubeln", tönte Russlands Präsident Wladimir Putin. "Jene, die mit uns Langfristverträge unterschrieben haben, können die Preise nun genießen", wiederholte fast wortwörtlich die Vize-Chefin von Gazprom, Elena Burmistrova, verantwortlich für das Exportgeschäft.

Moskau wirbt intensiv für Langfristverträge

Schon seit Wochen sendet Moskau ein unmissverständliches Signal nach Europa: Schließt mit Gazprom und somit mit Russland langfristige Verträge über Erdgaslieferungen ab - und ihr werdet euch nicht um Strom oder Wärme sorgen müssen. Dies geschah vor dem Hintergrund einer beispiellosen Gaskrise auf dem europäischen Markt. In den letzten Monaten hat sich der Preis vervielfacht, Anfang Oktober betrug er sogar das Zehnfache des Durchschnittpreises von 2020. In billigeren Zeiten hatten sich viele westeuropäischen Versorger am Spotmarkt eingedeckt, zu kurzfristig niedrigeren Preisen.

Verschiedene westliche Experten, Medien und Politiker vermuten, dass Gazprom gezielt den Energiemangel in Europa verschärft hat, um Druck auf Deutschland und die EU auszuüben mit dem Ziel, eine schnellstmögliche Betriebserlaubnis für die fertiggestellte Ostseepipeline Nord Stream 2 zu erwirken. Und zwar für beide Stränge der Leitung, die dafür eine Ausnahme aus EU-Gesetzen braucht. Dafür hat auch Putin bei der Eröffnung der Russischen Energiewoche an diesem Mittwoch in Moskau erneut intensiv geworben. 

Die deutschen Erdgasspeicher (hier bei Hamburg) sind derzeit nach Angaben der Bundesregierung zu 75 Prozent gefüllt
Die deutschen Erdgasspeicher (hier bei Hamburg) sind derzeit nach Angaben der Bundesregierung zu 75 Prozent gefülltBild: picture-alliance/dpa

Doch mittlerweile, besonders nach diesem Auftritt, verfestigt sich der Eindruck, dass Moskau offensichtlich ein zweites strategisches Ziel verfolgt. Dafür spricht die Beharrlichkeit, mit der verschiedene hochrangige Vertreter Russlands, offizielle russische Medien und inoffizielle Multiplikatoren in den Sozialen Medien zurzeit die frühere Praxis langfristiger Lieferverträge mit Gazprom preisen - und den EU-Ländern eine Abkehr vom freien Börsenhandel mit Gas auf dem Spotmarkt nahelegen.    

Putins Kritik an den "Schlaumeiern" in der EU-Kommission

Den Ton und die Marschrichtung hat Wladimir Putin vorgegeben, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass die Politik von Gazprom von ihm bestimmt wird. "Es waren die Schlaumeier aus der vorigen Amtszeit der EU-Kommission, die sich für Gas eine Preisbildung am Markt ausgedacht haben - und da haben wir nun das Ergebnis", erklärte der russische Präsident auf einer Pressekonferenz bereits Anfang September, als die Spotmarktpreis für 1000 Kubikmeter auf 650 Dollar hochschnellte.

Einen Monat später, am 6.Oktober - der Preis hatte gerade fast 2000 Dollar erreicht - wiederholte und präzisierte der Kremlherrscher bei einer Beratung zu Energiefragen seine Kritik. "Eigentlich waren es die Experten aus der vorigen Amtszeit der EU-Kommission, vor allem britische Experten, die den Vorschlag machten, Gas an der Börse zu handeln, ihn dann lancierten und durchsetzten." Jetzt, nach dem Brexit, müssten die Verbraucher in Kontinentaleuropa nun die Zeche zahlen, fügte Putin sinngemäß hinzu.  

Ein Brand an einer Gazprom-Station in Novoi Urengoi soll eine der Ursachen für geringere Liefermengen aus Russland gewesen sein.
Ein Brand an einer Gazprom-Station in Novoi Urengoi soll eine der Ursachen für geringere Liefermengen aus Russland gewesen sein. Bild: Russia Emergencies Ministry/ITAR-TASS/imago images

Wenige Tage später wiederholte der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow diese Message an den Westen in einem Interview mit der Financial Times. Die Langfristverträge mit Russland hätten, so der Diplomat, die Liefersicherheit sowie stabile Mengen und Preise gewährleistet, aber "dann kam Brüssel mit der Idee, das System zu ändern". "Wir wissen" - erklärte der Diplomat den internationalen Lesern der britischen Wirtschaftszeitung - "dass Marktregeln in einigen Situationen nützlich sein können, in anderen aber völlig nutzlos sind".

Und nun, bei der Eröffnung der Energiewoche, wiederholt Putin erneut seinen Vorwurf an die ehemalige EU-Kommission, sie hätte geglaubt, ein freier Gashandel würde den Energiemarkt austarieren: "Wir haben ihnen immer gesagt, dass eine Ausrichtung auf Langfristverträge notwendig ist."  

Warum kam es zum Kollaps des Spotmarktes in diesem Herbst?

Es stellt sich allerdings die Frage, warum der von Moskau dermaßen kritisierte europäische Börsenhandel mit Gas jahrelang reibungslos funktionierte und lediglich in diesem Sommer zuerst aus dem Gleichgewicht geriet und dann, im September und Oktober, praktisch kollabierte. Denn wenn sich der Preis binnen weniger Wochen vervielfacht, dann ist das ein Kollaps des Marktes.

Der akute Gasmangel in Europa habe mehrere Ursachen, lautet die fast einhellige Expertenmeinung. Genannt werden unter anderem der niedrige Füllstand europäischer Gasspeicher nach dem kalten Winter 2020/2021, die bevorzugte Belieferung Asiens mit Flüssiggas, wo noch höhere Preise gezahlt werden, größerer Gasverbrauch bei der Stromerzeugung wegen monatelanger Windflaute und längere Reparaturarbeiten an norwegischen Pipelines.

Warum aber ist Russland, das nahezu 40 Prozent der EU-Gasimporte gewährleistet, in dieser Situation seiner Verantwortung als Marktführer nicht gerecht geworden? Gazprom hätte das Angebot am europäischen Spotmarkt erhöhen können, um die stark gestiegene Nachfrage wenigstens teilweise zu befriedigen - und dabei noch richtig gutes Geld zu verdienen.

Ein Mann von Putins Ganden: Gazprom-Chef Alexei Miller.
Ein Mann von Putins Ganden: Gazprom-Chef Alexei Miller. Bild: Mikhail Kireev/Sputnik/dpa/picture alliance

Gazprom verzichtet auf zusätzliche Einnahmen

Auf diesem Umstand verweist der kremlkritische russische Energieexperte Michail Krutichin in einem Interview mit der Moskauer Zeitung Nowaja Gazeta: "Statt den Anstieg der Preise zu nutzen und zusätzlichen Gewinn aus Gasverkäufen zu hohen Spotmarktpreisen zu erzielen, hat Gazprom beschlossen, den Handel auf den Spotmärkten gänzlich einzustellen, und angekündigt, im 4.Quartal und im ganzen nächsten Jahr keine zusätzlichen Gasmengen an elektronischen Handelsplätzen zu verkaufen." 

Krutichin vergleicht die Taktik von Gazprom mit einem Dienst-nach-Vorschrift-Streik ("Alle früher abgeschlossenen Verträge werden erfüllt, aber Europa bekommt keine zusätzlichen Gasmengen") und sieht darin eindeutig politische Motive.

Zu diesem Schluss kommt auch der Moskauer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Friedrich Schmidt. "Russlands Verhalten in der Gaskriese" - heißt es im Artikel mit der Überschrift "Russlands merkwürdiger Verzicht auf Geld" – "gibt Wirtschaftsanalysten Rätsel auf: Der staatlich kontrollierte Gazprom-Konzern erfüllt seine langfristigen Gaslieferverträge, nimmt aber nicht die Chance wahr, viel Geld zu verdienen, indem er seine bisher spärlichen Geschäfte auf dem Spotmarkt ausweitet." Der Russland-Kenner ist ebenfalls überzeugt: Gazprom setzt politische Vorgaben des Kremls um.   

Ein Konterkarieren des Green Deals der EU

Besteht also eine wesentliche Ursache für den jetzigen Gasmangel darin, dass Gazprom den europäischen Börsenhandel regelrecht boykottiert, dass der Kreml die Gunst der Stunde nutzt und den Spotmarkt in der EU gezielt austrocknen lässt, um dadurch zu diskreditieren? Ist das Moskaus Kalkül?

Wer Putin bei der Auftaktveranstaltung der Energiewoche aufmerksam zugehört hat, dem war klar, dass die Meldungen, Russland wolle jetzt seine Gaslieferungen nach Europa erhöhen, vorschnell abgesetzt wurden. Der Kremlchef sprach nicht vom europäischen (Spot)markt, er meinte ausdrücklich "unsere Partner". Soll heißen: Auf zusätzliches Gas können nur die Unterzeichner von Langfristverträgen hoffen. Das ist schon kein Werbefeldzug mehr, das sieht eher nach Druck aus.  

Einen ersten Achtungserfolg kann Gazprom bereit präsentieren: Gerade eben hat Ungarn mit dem russischen Staatskonzern einen 15-Jahresvertrag unterschrieben. Wenn weitere und größere EU-Länder zu langfristigen Lieferverträgen mit dem russischen Staatskonzern zurückkehren, würde das Russland dominierende Stellung auf dem europäischen Wärme- und Strommarkt für Jahre zementieren und Europa für mögliche Konkurrenten aus der Flüssiggas-Industrie noch weniger attraktiv machen.

Gleichzeitig würden solche Langfristverträge den Green Deal, die ambitionierten Dekarbonisierungspläne und Klimabemühungen der EU, konterkarieren. Denn die EU-Länder müssten bis Mitte oder gar Ende der 2030er Jahre große Mengen des fossilen Energieträgers Gas importieren, auch wenn die Erneuerbaren Energien bereits in diesem Jahrzehnt den erwarteten und angestrebten Entwicklungsschub bekommen sollten. Aber offensichtlich will Moskau genau das auch erreichen.