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6. Tag

16. Februar 2011

Erlösung: Der sechste Tag des Wettbewerbs brachte den ersten wirklich herrausragenden Film. Und der kommt ausgerechnet aus dem Iran, dem Land, das hier in den letzten Tagen für so viel Gesprächsstoff gesorgt hat.

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Jochen Kürten (Foto: DW)
Jochen KürtenBild: DW

Kräftiges Klatschen nach dem Abspann, das hatte es im bisherigen Verlauf des Wettbewerbs um den Goldenen Bären noch nicht gegeben - mal abgesehen von den abendlichen Galavorstellungen mit Ehrengästen und dem jeweiligen Filmteam, für die schon aus Höflichkeit, aus Feierlaune und auch aus anderen Gründen applaudiert wird. Das kann also kein Kriterium sein. Da sind die Reaktionen der Presse aus aller Welt schon relevanter. Am Dienstag war es endlich soweit. Und alle Kollegen, die ich im Anschluß an den iranischen Film "Jodaeiye Nader az Simin" (zu Deutsch etwa: "Nader und Simin: Eine Scheidung") sprach, waren angetan bis begeistert. Der iranische Beitrag hat endlich für den ersten Höhepunkt der bisher so lauen Konkurrenz gesorgt. Und es wurde bestimmt nicht aus Solidarität für das inhaftierte Jurymitglied Jafar Panahi geklatscht. Denn das würde bedeuten, dass die Zuschauer, die Kunst des Regiekollegen Asghar Farhadi nicht anerkennen würden.

Filmszene aus 'Jodaeiye Nader az Simin' von Aghar Farhadi (Foto: Internationale Filmfestspiele Berlin)
Löste Begeisterung aus: "Jodaeiye Nader az Simin" von Aghar FarhadiBild: Internationale Filmfestspiele Berlin

Asghar Farhadi zeigt uns zunächst ein Paar vor dem Scheidungsanwalt. Simin will ihren Mann Nader und auch das Land verlassen. In der gemeinsamen Wohnung hält sie es unter anderem deshalb nicht mehr aus, weil Naders an Alzheimer erkrankter Vater zu viel Raum im Eheleben einnimmt. Doch Nader möchte den Vater nicht in ein Heim abschieben. Da das Gericht ihre gemeinsame Tochter Nader zusprechen würde, verzichtet Simin zunächst auf die Scheidung und auf eine Ausreise. Was dann geschieht, ist eine nicht enden wollende Verkettung von Unglücken, Mißgeschicken und Mißverständnissen. Razieh, eine junge Frau, die tagsüber die Pflege des kranken Vaters übernommen hat, verlässt eines Tages kurz das Haus, während der hilflose Vater aus dem Bett fällt. Als Nader zurückkommt, ist er so empört, dass er die schwangere Razieh aus der Wohnung drängt. Die stürzt dabei und verliert ihr Baby. Zwischen den Familien kommt es zum Streit, der vor Gericht ausgetragen wird. Die Hauptleidtragenden bei den Auseinandersetzungen sind vor allem die Kinder, die ohnmächtig mitansehen müssen, wie sich die Eltern immer weiter auseinanderleben.

Komplexe Charaktere

"Jodaeiye Nader az Simin" ist ein ungeheur dicht und konzentriert inszeniertes Familiendrama auf engstem Raum. Die Charaktere sind glaubwürdig dargestellt, psychologisch fein gezeichnet, dazu in ihrer Komplexität differenziert und vielschichtig. Kein Handlungsstrang, kein Charakter ist eindimensional angelegt. Es gibt in dem Film kein Gut und kein Böse, kein Richtig und kein Falsch. Der Regisseur zeigt uns eindringlich, wie menschliches Zusammenleben funktioniert - oder auch nicht. Dabei verzichtet er vollkommen auf spektakuläre Bilder und Szenerien. Alles spielt sich in einer Wohnung, in ein paar Räumen beim Gericht, in Krankenhausfluren, auf den Straßen ab. "Jodaeiye Nader az Simin" ist mit einer verblüffenden Beiläufigkeit inszeniert. Damit bestätigt sich der Eindruck, den man schon vor zwei Jahren von diesem Regisseur hatte, als Asghar Farhadi den Film "Elly" ebenfalls im Berlinale-Wettbewerb präsentierte. Farhadi ist ein großer Könner, ein Menschenkenner, ein zurückhaltender wie wirkungsvoller Filmemacher.

Filmen in Diktaturen

Nun ist man natürlich versucht, den Film angesichts der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Farhadis Heimat als Parabel, als Anspielung auf den gegenwärtigen Iran zu interpretieren. Man kann das tun. "Jodaeiye Nader az Simin" ist aber in erster Linie ein großer Film über ganz normale Menschen. So wie das auch bei dem Regisseur Ingmar Bergman, dem in diesem Jahr die Retrospektive gewidmet ist, immer der Fall war. Ein Film, der auch ausschließlich auf der sichtbaren, scheinbar nur vordergründigen Handlungsebene funktioniert. Der aber auch - und das macht häufig große Filmkunst aus - vielfach gebrochen ist und interpretationsfähig erscheint. Ein Phänomen, das nicht neu ist: Gerade in diktatorischen Systemen hat es immer wieder Filme gegeben, die es trotz aller Repressionen verstanden haben, über die Verhältnisse im Land zu berichten. Auf diesem schmalen Grat zwischen Zensur und Anpassung bewegen sich nur wahre Könner. Ob Luis Buñuel während der Franco-Diktatur oder Andrej Tarkowskij in der Sowjetunion - große Filmkunst ist auf wundersame Weise auch in solchen Zeiten und Ländern entstanden.

Filmszene aus `The Future´von Miranda July (Foto: The Future)
Enttäuschend: der Film "The Future" von Miranda JulyBild: 2011 The Future

Im Anschluß an "Jodaeiye Nader az Simin" lief der Film "The Future" von der amerikanischen Autorin, Regisseurin und Künstlerin Miranda July. Es ist wie immer: auf großen Jubel folgt ein jäher Absturz. Da fällt mir nichts anderes als unbeteiligtes Schulterzucken ein: Was gehen mich diese Probleme der jungen Leute in den USA an? Das ist natürlich ungerecht. Aber in so dichter zeitlicher Abfolge fiel Julys Film einfach stark ab. July, die selbst die weibliche Hauptrolle spielt, agiert als eine Hälfte eines jungen Nerd-Paares, das sich vornimmt, einmal ohne Computer auszukommen. Ihr größter Wunsch: eine Katze zu adoptieren. Mag sein, dass man "The Future" irgendwann mal als Zeitbild für die Großstadtjugend in den USA des Jahres 2011 herbeizitieren wird, als Spiegelbild einer Zeit und seiner Menschen. Insofern ist der Film möglichwerweise für Psychologen und Soziologen interessant. Doch die Menschen erscheinen blutleer, ihr Leben oberflächlich. Wen interessieren diese unglücklichen Seelen, die sich mit zeitlupenhaften Bewegungen durchs Leben bewegen? Arme Jugend auf der Leinwand und hinter der Kamera, denke ich und sehne mich nach den starken Filmbildern und Protagonisten im Film zuvor.

Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Angela Müller